Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
Zahltag, und Tilneys Gesicht hatte sich nach dem schon reichlich genossenen Alkohol rot gefärbt. Sanburne schien eher verhaltener Stimmung zu sein, doch als Tilney ihm eine Flasche hinhielt, riss er sie ihm fast aus der Hand und gab sie erst wieder zurück, nachdem er sie mit einem Zug halb geleert hatte. Tilney wandte sich an Phin und bot auch ihm einen Schluck an. Leider tat er das genau in dem Moment, in dem sich die Kutsche in Bewegung setzte, sodass sich der Alkohol über Phins Knie ergoss.
»Großartig!«, sagte Sanburne, schnappte sich die Flasche und leerte den Rest über Tilneys Beinkleidern aus. Als der empört aufschrie, fuhr er ihn an: »Es gibt keinen Grund, wie ein Mädchen zu kreischen. Irgendwo hier muss noch eine Flasche sein.«
Tilney suchte den Boden zu Sanburnes Füßen ab, stieß tatsächlich auf eine weitere Flasche und wollte sie an Phin weiterreichen.
»Der trinkt nicht«, sagte Sanburne.
»Was?« Tilney starrte Phin ungläubig an. Dalton beugte sich nach vorn und kniff die Augen zusammen, als würde er ein seltenes Meerestier betrachten, das in den unentdeckten Tiefen des Ozeans lebte.
»Nur hin und wieder«, sagte Phin. »Und auch nur, um meine Langeweile in öder Gesellschaft zu betäuben.«
Im Varietétheater, dessen creme- und goldfarbene Fassade hell erleuchtet war und vor der unzählige Kutschen standen, herrschte reges Treiben. Hohe Tiere mit noch höheren Hüten, Damen in grellen Satinroben und mit ausgefallenem Kopfschmuck, Dienstmänner mit dem roten Band an ihrer Mütze, Kupplerinnen und bettelnde Straßenjungen, behelmte Polizisten, die vergeblich versuchten, die Menge auseinanderzutreiben – der Lärm der Menge verfolgte Phin und seine Begleiter bis in das Innere des Gebäudes und sogar die mit rotem Teppich ausstaffierte Treppe hinauf. Schließlich war vom Straßenlärm nur noch ein dumpfes fernes Grollen zu hören, das an das nächtliche Brauen des Winterwindes erinnerte.
Ihre Loge befand sich hoch über der Bühne und direkt neben dem blauen Samtvorhang am Ende der u-förmigen Galerie. Von hier aus bot sich Phin ein exzellenter Blick.
Als es um die Wahl der Getränke ging, warf Phin Tilney einen spitzen Blick zu und bestellte sich einen Whiskey, was Sanburne nicht gutzuheißen schien. Phin nahm einen Schluck und wartete darauf, dass die Vorführung begann, ehe er den Rest des Drinks auf den Teppich schüttete. Bei der nächsten Runde bestellte er noch einmal das Gleiche. Jetzt machte Sanburne ein völlig verdutztes Gesicht. Der Viscount war schon ein eigenartiger Alkoholiker, nicht wahr? Bei der dritten Whiskey-Bestellung beobachtete Sanburne ihn ganz genau. Du hast recht , dachte Phin, ich kann das nicht so gut wie du. Zwischendurch verschwand Tilney und kehrte mit einer Balletttänzerin zurück, die Phin schöne Augen machte und voller Bewunderung für seine Manschettenknöpfe war. Mit lauter Stimme, die ein wenig zu eifrig klang, warf Dalton eine Bemerkung in die Runde, woraufhin die Männer lautstark in Lachen ausbrachen. Das hässliche, durchdringende Geräusch ließ die Tänzerin heftig zusammenzucken. Sie wirkte sehr jung. Fiel den anderen nicht auf, dass sie die Frau mit ihrer Ausgelassenheit ängstigten? Allem Anschein nach war sie noch nicht lange im Geschäft. Phin hatte Mitleid mit ihr und wünschte, dass es Frauen erspart bliebe, sich so demütigen lassen zu müssen. Doch er wusste, dass manch einer keine andere Wahl blieb.
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Bonham würde nicht auftauchen, das sagte ihm sein Instinkt. Er würde also nicht umhinkommen, Mina um ihre Hilfe zu bitten. Er konnte nur beten, dass alles gut ging und ihr nichts passierte.
Dalton beugte sich zu ihm und belästigte ihn, indem er sich beschwerte, Phin würde nicht richtig mitfeiern. Sanburne, der einen neuen Verdacht hegte, lehnte sich ebenfalls zu Phin und schnupperte an ihm. »Opium?« Er lehnte sich zurück. »Selbst Gin wäre eine bessere Alternative. Oder Arsen, das greift das Gehirn nicht so an.«
Dass ausgerechnet Sanburne ihm einen Vortrag über eine gesunde Lebensweise hielt, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. »Wie recht du hast«, sagte Phin gelassen. »Vielen Dank für den Hinweis.«
»Ich mache mir eben Sorgen«, sagte der Viscount.
Allem Anschein nach war Phin nicht der Einzige, der dringend einen Blick in den Spiegel werfen musste. »Das musst du nicht.«
»Und ob ich das muss.«
»Hast du einen Spiegel, James?«
Sanburne schrak zurück. Er sah
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