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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus
Autoren: Wolfgang Jeschke
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»Hilf mir«, rief eine winzige dünne Stimme. Sherlock schrak zusammen und blickte umher. Am Boden zuckten die Stücke von Jiminy Cricket. »Ich will auch sehen«, sagte der Kopf. »Hilf mir! Kehr mich einfach zusammen, ich sortiere mich schon!«
    Sherlock Holmes kauerte nieder, nahm die Teile zwischen Finger und Daumen und legte sie aufeinander, und mit einem einzigen krampfhaften Aufbäumen fügten sie sich alle zusammen. Die Arme und Beine waren verkehrt herum, aber das schien Jiminy Cricket nichts auszumachen. »Danke, Bruder«, sagte er und hinkte auf das Loch zu, wo die Tür gewesen war. »Komm mit! Laß dir den Spaß nicht entgehen!« Und auch er war fort.
     
    Sherlock Holmes ging hinaus, wo er eine Menge der Disneyland-Figuren fand. Sie standen im Kreis und spähten alle nach innen, wo ein Lichtschein in der Luft glomm.
    »Wer ist es?« fragte Jiminy Cricket und zupfte an Sherlock Holmes’ Hosenbein. »Ich kann nicht sehen.«
    »Ich weiß es noch nicht«, sagte Sherlock. Er hob Jiminy Cricket auf und setzte ihn auf seine Schulter.
    Das Licht nahm gleichmäßig an Helligkeit zu, und aus seinen Tiefen drang das Stöhnen einer gewaltigen Baßstimme. Das Licht nahm Gestalt an. Die Umrisse eines Mannes. Plötzlich gab es einen scharfen Donnerschlag, und das Licht explodierte.
    Alle Disneyland-Figuren, einschließlich Sherlock Holmes, warfen sich zu Boden. Als sie wieder aufblickten, sahen sie einen Mann. Einen Riesen. Er stand steif und gerade, schwankte auf den dicken Sohlen seiner Stiefel vor und zurück. Er trug einen formlosen schwarzen Anzug, der mehrere Nummern zu klein aussah. Seine Hände waren wie Schaufeln, und seine Schultern erweckten den Eindruck, daß der Kleiderbügel in der Jacke geblieben war, als er sie angezogen hatte. Sein Gesicht …
    »Sein Gesicht«, sagte Schneewittchen und drückte sich ein Taschentuch an die Lippen. Sie fiel in Ohnmacht.
    Das Gesicht war eine schwielige Masse von Narben, die Augen zwei gelbe Löcher.
    »Frankenstein«, hauchte Sherlock Holmes.
    »Sein Ungeheuer«, antwortete der Riese.
    Er wandte sich langsam und ruckartig um, als bereite es ihm Schwierigkeiten, und betrachtete die Menge. Seine Finger, steif wie gefrorene Handschuhe, zuckten.
    »Hallo, Frank«, sagte Micky geistesgegenwärtig. »Willkommen an Bord.« Er nahm eine der steifen Hände und versuchte sie zu schütteln.
    »Wo ist Mary?« sagte das Ungeheuer. »Mary Shelley. Sie war bei mir. Sie liebte mich. Sie schrieb. Eine lange Feder auf Papier. Eine brennende Kerze, und kalter Regen, der ans Fenster schlug.«
    Micky schaute verständnislos. »Donald!«
    Donald Duck kam herbeigewatschelt. Seine Augen glänzten.
    »Sag uns, woran du dich erinnerst … äh … Frank.«
    Das Gesicht des Ungeheuers knitterte sich langsam zu dem abscheulichsten Lächeln, das man je gesehen hatte. »Ich erinnere mich an … nichts. Dann war Mary da, und Licht und Schmerz, und ich wußte, daß ich häßlich war, weil die Leute vor mir davonliefen. Dann …« Er brach ab.
    »Was war dann?« fragte Donald Duck.
    »Dann gab es ein gewaltiges Zusammenströmen. Blitze zuckten. Mein ganzes Leben zog an mir vorüber, und ich war hier, wie ich jetzt bin.« Er hielt inne und blickte umher. »Wo bin ich?«
    »Bei Freunden«, sagte Micky inbrünstig. Er wandte sich zu Sherlock Holmes. »Siehst du, Sherlock-Baby? Es geht los. Es kommt alles zusammen. Junge, das wird ein Fest.«
     
    Und am selben Abend gab es ein Fest. Viele weitere Erfindungen waren eingetroffen, entweder, indem sie sich aus der Luft materialisierten oder gemächlich über die Stacheldrahtrollen vor den glotzäugigen Militärs kletterten. Sie versammelten sich in der Mitte von Disneyland.
    Alice war direkt aus dem Wunderland gekommen und scherzte mit der Herzkönigin, die sich vor Lachen am Boden wälzte. Sindbad der Seefahrer, dem noch der Salzgeruch der See anhaftete, verblüffte mit erstaunlichen Taschenspielerkunststücken und ließ Münzen verschwinden und wieder erscheinen. Mickymaus jonglierte mit Löffeln. Verschiedene Hexen und Zwerge hatten sich zu einer Tanzkapelle formiert und brachten das Dachgebälk zum Vibrieren. Frankensteins Ungeheuer lernte mit Schneewittchen tanzen. Alle sangen, und jeder zeigte seine besonderen Fertigkeiten: Einmal lachte Dumbo so sehr, daß er sich mitten auf der Tanzfläche blamierte und rosarot wurde. Es machte niemandem etwas aus. Alles war guter Dinge.
    Abseits in einem Winkel saß Donald Duck für sich allein. Er las Shakespeare
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