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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus
Autoren: Wolfgang Jeschke
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goldene und silberne Streifen, und selbst der Staub, der durch die Plane gedrungen war, konnte die erstklassige Lackierung nicht verschandeln. Der Wagen hockte auf dem Zement wie ein lauernder Berglöwe, und der alte Mann umrundete ihn mehrmals langsam und bewunderte ihn aus allen Richtungen.
    Schließlich klappte er den Tankverschluß auf und schüttete den Rest des Benzins aus dem Kanister in den Tank des Wagens. Dann stellte er den Kanister weg, legte sich auf den Bauch und inspizierte den rechten Vorderreifen. Der Druck war gefährlich niedrig. Er nahm die Pumpe aus dem Wandhalter, pumpte den Reifen auf und maß den Druck mit dem Druckmesser aus dem Werkzeugkasten. Erst als er ganz sicher war, daß der Wagen von außen völlig in Ordnung war, öffnete der alte Mann die Fahrertür. Abgestandene Luft zischte ihm ins Gesicht. Er kurbelte beide Fenster herunter; dabei beugte er sich vorsichtig über den Fahrersitz, um mit seinen schmutzigen Kleidern nicht das glatte schwarze Leder zu berühren.
    Er öffnete die Motorhaube und legte ein Kabel von den Polen der Batterie zum Ladegerät und steckte den Stecker des Ladegeräts in den Anschluß des laufenden Generators. Seine Bewegungen waren präzise und seine Hände ruhig, obwohl er wußte, daß ein Dutzend Dinge schiefgehen konnten. Die Batterie war seit vier Jahren im Auto, und es war seine letzte. Er wußte, daß er keine weitere finden würde, und so betete er, während die Nadeln der Ladeanzeigen hinter den Glasdeckeln tanzten.
    An dem Tag, als das Haus abgebrannt war, hatte der Kilometerzähler des Wagens auf 7800 Meilen gestanden, und ohne nachzusehen wußte er, daß er jetzt auf 8360 stand. In den letzten zwanzig Jahren war er jedesmal an seinem Geburtstag genau achtundzwanzig Meilen gefahren. Vierzehn Meilen bis zum großen Erdrutsch, der ein Stück vor Santa Cruz den Freeway blockierte, und vierzehn Meilen zurück. Seine Hände begannen zu zittern, als er an diese Ausfahrten dachte. Er schnappte sich ein zerfranstes Handtuch, ein Stück Seife und eine Schere von einem Regal und eilte hinaus, unfähig, seine Erregung länger zu unterdrücken.
    Er ging zum Bach, der von der Quelle im Hügel herunterkam, und watete ins hüfthohe Wasser hinein. Es war kalt, doch er bemerkte die Kälte nicht. Er streifte die Häute, die er als Kleider trug, ab und stand nackt im brodelnden Wasser. Er benutzte reichlich Seife und schrubbte den Dreck ab, der seinen ganzen Körper überzog. Als er fertig war, betrachtete er die Seife in seiner Hand und überlegte, daß der Seifenvorrat wahrscheinlich länger halten würde als das Benzin. Ein Stück Seife im Jahr. Er lachte laut darüber, und der Widerhall seiner Stimme zwischen den Bäumen erschreckte ihn.
    Er setzte sich ans Ufer und nahm die Schere. Er brauchte zehn Minuten, um sich den Bart abzuschneiden und das Gesicht mit der Schneide sauberzukratzen. Diesmal schnitt er sich nicht, und er fand, daß es ein gutes Omen war. Er richtete sein Haar, ohne sein Spiegelbild im silbernen Wasser zu betrachten, weil es noch nicht Zeit war, sich selbst zu sehen. Er schnitt es zurück, bis es nur noch knapp über die Ohren fiel. Es war ein schlechter Schnitt, doch der alte Mann wußte es nicht, weil er keine Vergleichsmöglichkeiten mehr hatte.
    Er nahm das Handtuch, trocknete sich ab und ging in die Garage zurück. Er nahm ein Staubtuch aus einer Schublade in der Werkbank und stand mit zitternden Waden neben dem Wagen. Das dichte schwarze Haar auf seinen Beinen und seiner Brust kräuselte sich in der Kälte der Garage. Er beugte sich über den Wagen, streichelte die Staubflecken fort und wischte die feuchten Stellen ab, die sich unter der Plane gebildet hatten, als die Luftfeuchtigkeit in den langen Sommermonaten ihren Höhepunkt erreicht hatte. Im Hintergrund summte der Batterielader, und er lehnte sich gegen die Heckklappe, um hinauf zugelangen und den hinteren Teil des geneigten Daches abzuwischen. Er fuhr nur ganz leicht über das Metall, als wäre er ein Museumswärter, der ein kostbares Gemälde reinigt. Das war der schönste Teil, erinnerte er sich. Fast so schön wie das, was noch kommen würde.
    Doch plötzlich war die schreckliche Einsamkeit wieder da, packte seinen Bauch wie eine Stahlklammer. Er und das Ereignis waren das einzige, was wirklich etwas bedeutete, beruhigte er sich. Er hatte oft geträumt, wieder in einer Zeit zu leben, in der er sein Meisterwerk mit anderen teilen konnte, mit Menschen, die es zu schätzen wußten.
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