Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
Vom Netzwerk:
daß wir jemanden auch zu seinem Besten nicht gern quälen mögen?
    Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken, jenen Gehülfen aus der Pension kommen zu lassen, der über Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Außenbleibens sich sehr freundlich geäußert, aber keine Antwort erhalten hatte.
    Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in ihrer Gegenwart.
    Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben.
    »Warum soll ich ausdrücklich sagen, meine Geliebten, was sich von selbst versteht?
    Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein.
    Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden.
    Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu entfernen.
    Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen.
    Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir.
    Mein Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet.
    Nach Gefühl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen.
    Ein strenges Ordensgelübde, welches den, der es mit Überlegung eingeht, vielleicht unbequem ängstiget, habe ich zufällig, vom Gefühl gedrungen, über mich genommen.
    Laßt mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet.
    Beruft keine Mittelsperson!
    Dringt nicht in mich, daß ich reden, daß ich mehr Speise und Trank genießen soll, als ich höchstens bedarf.
    Helft mir durch Nachsicht und Geduld über diese Zeit hinweg.
    Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet mich in eurer Gegenwart, er freut mich durch eure Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung; aber mein Innres überlaßt mir selbst!« die längst vorbereitete Abreise der Männer unterblieb, weil jenes auswärtige Geschäft des Majors sich verzögerte.
    Wie erwünscht für Eduard!
    Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre trostvollen, hoffnunggebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem Ausharren berechtigt, erklärte er auf einmal, er werde sich nicht entfernen.
    »Wie töricht«, rief er aus, »das Unentbehrlichste, Notwendigste vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen, das, wenn uns auch der Verlust bedroht, vielleicht noch zu erhalten wäre!
    Und was soll es heißen?
    Doch nur, daß der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können.
    So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Dünkel, Stunden, ja Tage zu früh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem letzten, unausweichlichen Termin entschieden gezwungen zu werden.
    Diesmal aber will ich bleiben.
    Warum soll ich mich entfernen?
    Ist sie nicht schon von mir entfernt?
    Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu drücken; sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir.
    Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben«.
    Und so blieb er, wie er wollte, wie er mußte.
    Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand.
    Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte sich dieser seligen Notwendigkeit nicht entziehen.
    Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus.
    Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, näherten sie sich einander.
    Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange, und sie standen, sie saßen nebeneinander.
    Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins.
    Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt.
    Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt.
    Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden.
    Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so daß man sich über sie völlig beruhigen konnte.
    Sie entfernte sich wenig aus
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher