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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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man sah sich genötigt, die Kapelle, ja außer den Stunden des Gottesdienstes die Kirche zu verschließen.
    Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen.
    Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter fähig zu sein.
    Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis und Trank vermindert sich mit jedem Tage.
    Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen.
    Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe.
    Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes Ungefähr mit emporzuheben scheint, so mögen sich auch gern die kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen vereinigen.
    Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Entsetzen wieder; es war dasselbe und nicht dasselbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
    Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muß gestehen, das echte Glas sei unlängst zerbrochen und ein gleiches, auch aus Eduards Jugendzeit, untergeschoben worden.
    Eduard kann nicht zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat; wie soll ihn das Gleichnis rühren?
    Aber doch drückt es ihn tief.
    Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten.
    Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe.
    Er verlangt wieder etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen.
    »Ach!« sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam, »was bin ich unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt!
    Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu übernehmen.
    Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält mich zurück und mein Versprechen.
    Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen.
    Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum«.
    Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen, freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten?
    Endlich fand man ihn tot.
    Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung.
    Er berief den Arzt und beobachtete, nach seiner gewöhnlichen Fassung, genau die Umstände, in denen man den Verdacht des getroffen hatte.
    Charlotte stürzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in ihr; sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen Unvorsichtigkeit anklagen.
    Doch der Arzt aus natürlichen und Mittler aus sittlichen Gründen wußten sie bald vom Gegenteil zu überzeugen.
    Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden.
    Er hatte, was er bisher sorgfältig zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien Übriggebliebene in einem stillen Augenblick vor sich aus einem Kästchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen, in glücklicher Stunde gepflückt, alle Blättchen, die sie ihm geschrieben, von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so zufällig ahnungsreich übergeben hatte.
    Das alles konnte er nicht einer ungefähren Entdeckung mit Willen preisgeben.
    Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.
    Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.
    Unter dieser Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.
    So ruhen die Liebenden nebeneinander.
    Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.
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