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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision
Autoren: Judith Merkle-Riley
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blickte ihm in die Augen und sagte: »Du bist nicht mein Papa.«
    »Nein«, sagte er ernst und ruhig. »Aber dein Papa ist jetzt im Himmel, und du brauchst hier auf Erden einen Vater aus Fleisch und Blut, wenn du das Erwachsenenalter erreichen willst. Ich bin alles, was du hast, solange es Gott gefällt. Vergiß das nicht und nenne mich Vater.« Cecily schien ihn eine Ewigkeit anzustarren, während sie die Sache überdachte. Alison steckte den Daumen in den Mund und wartete ab, was Cecily tun würde.
    »Ja, Vater«, sagte die, zögerte ein wenig und knickste dann, wie sie es bei Mistress Wengrave gelernt hatte. Die Verräterin! Ein angewiderter Ausdruck huschte über Alisons rundes Kindergesicht, und sie machte auf ihrem fetten kleinen Hacken kehrt.
    »Und du«, sagte Gregory. Das überhörte Alison. »Du Kleine. Alison. Dreh dich um.« Sie machte kehrt, nuckelte auf ihrem Daumen und dachte nach. Dann zog sie ihn aus dem Mund. Das kannte ich. Sie wußte immer, woher der Wind wehte.
    »Ja, Vater«, sagte sie. Und dann nahm sie ihren Rock in die Hände und wippte ein wenig, was einen Knicks bedeuten sollte.
    »Gut«, sagte er. »Jetzt helfe ich eurer Mutter vom Pferd, damit ihr sie umarmen könnt.« Und während er mir Hilfestellung gab, rief er nach einem Knecht, daß er ihm beim Herunterholen des Körbchens half, und stand Wache, während die Nachbarinnen es umdrängten und »Niedlich! Süß! Wie hübsch! Wie groß!« riefen und die Pferde fortgeführt wurden.

    Spät in der Nacht setzte sich Gregory im Bett auf. Es war so still, daß nicht einmal mehr die Grillen im Garten zirpten. Die gerade aufgehängten Bettvorhänge waren zwar zurückgezogen, doch im Dunkel, hinter geschlossenen Fensterläden, konnte man nichts mehr sehen. Die Kammer war noch ganz kahl, bar aller Truhen und Wandbehänge, auch der Teppich lag noch nicht wieder an seinem Platz, doch das war nicht der Grund, daß ihm so beklommen zumute war. Er hatte hier noch nie geschlafen. Und er hatte auch noch nie am Kopfende seines eigenen Tisches gesessen, Anweisungen erteilt und sich die Schüsseln von den Dienern zur Begutachtung bringen lassen. Und nie, in seinen wildesten Träumen nicht, hatte er geahnt, daß er nach dem Abendessen am Feuer sitzen, zwei kleine Mädchen auf dem Schoß halten und ihnen die Liebesgeschichte Ywain, der Löwenritter vorlesen würde, die im Schein der Kerze auf dem Lesepult vor ihm stand. Der gesamte Haushalt hatte stumm zugeschaut, als Alison ihn an die Hand genommen und ihm gezeigt hatte, wo er anfangen mußte – bei einem wunderschön gemalten Lesezeichen, welches Master Kendall dort nur zwei Tage vor seinem Tod hineingelegt hatte. Sie hatten hingerissen gelauscht, als er mit seiner klaren, ernsten Stimme zu lesen begann, denn die Geschichte, die dort in der Sprache des Volkes nach der Erzählung irgendeines Franzosen geschrieben stand, war sehr schön, und alle hatten sich schon eine geraume Weile gefragt, was wohl aus dem Löwen geworden sein mochte, nachdem er vor der Giftschlange gerettet worden war. Alles war anders gekommen. Gänzlich anders.
    Margaret hörte ihn sofort, denn eine Mutter schreckt des Nachts bei jedem Rascheln hoch.
    »Bist du wach?« flüsterte sie und hüllte sich fester in die Decke.
    »Natürlich. Was denkst denn du?« gab er im Dunkeln flüsternd zurück.
    »Du bist doch nicht krank?«
    »Nein, ich denke nach.«
    »Worüber?«
    »Daß mein Leben anders verlaufen ist, als ich gedacht habe.«
    »Wem geht das nicht so?«
    »Ich werde Gott wohl niemals zu Gesicht bekommen. Damals schien ich fast am Ziel, eine Weile jedenfalls, doch dann ging alles daneben.«
    »Sorg dich nicht, Gott sieht dich.«
    »Gott sieht jeden. Ich wollte etwas Besonderes sein. Vermutlich habe ich es mir schön vorgestellt, wenn alle Welt sagen würde: ›Da geht Bruder Gregory; er ist zwar nur ein zweiter Sohn, aber ein wahrer Erleuchteter.‹ Doch das hat sich als Stolz , als reiner Stolz, herausgestellt.« Er seufzte. »Man findet Gott wohl nicht, wenn man nach ihm sucht.«
    »Ich glaube – ich glaube, wenn man ihn darum bittet. Und – wenn man zuhört…« Sie wickelte sich in die Bettdecke und machte die Augen wieder zu. Gregory zog die Knie hoch und stützte die Ellenbogen auf. Und während sein Kinn auf den verschlungenen Händen ruhte, spähte er in die undurchdringliche Dunkelheit. Er lauschte. Zuerst hörte er in der Stille seinen eigenen, regelmäßigen Atem und Margarets sanften Rhythmus, derweil sie wieder
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