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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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dreibleiche Monde. Tanzen sollte er auch irgendwann lernen, ein wenig zumindest, ein paar Schritte, damit er seine Füße nicht allzu unbeholfen setzte.
    Er stolperte, taumelte nach vorn, fing sich gerade noch am Stamm der Aleppo-Kiefer. Neben ihm stand das Holzkreuz, um das eine Sitzbank gemauert war. Sie lockte für eine kurze Rast, aber er wurde nicht schwach. Er nicht. Er lehnte den Rücken gegen den Stamm. Mit weit aufgerissenem Mund fraß er die dünne Luft. Sein Herz raste. Das war gut. Das zeigte, daß es weiter wollte. Auf sein Herz konnte er sich verlassen.
    Gleich, dachte er, gleich! Immerhin war er schon bis zur Straßenkehre gelangt. Er warf einen Blick zurück. Da standen sie, quer über die Straße. Der ganze Haufen von vorhin, ja mehr noch. Jetzt waren auch Marisa Curzio, der Americano und Costanza Marcantoni dabei. Wie bei einer Prozession, die aus unerfindlichen Gründen ins Stocken geraten war, standen sie herum, unschlüssig, ob sie vorne nach dem Rechten sehen oder geduldige Feierlichkeit demonstrieren sollten. Erbärmlich sahen sie aus. Weil sie nichts hatten, wofür es sich zu leben lohnte. Er hätte vor ihnen ausgespuckt, wenn sein Mund nicht völlig ausgetrocknet gewesen wäre.
    Die Straße führte nach links hinab, doch er würde über die Felder abkürzen. Mit der Schulter stieß er sich vom Baumstamm ab, torkelte seinem Körper hinterher, knickte ein, rutschte, stürzte die Böschung hinab, fiel auf seinen rechten Arm, durch den heißer Schmerz peitschte. Vor seinen Augen wallte grauer Nebel, und er war glücklich, daß sein Arm doch nicht abgestorben war. Er hatte recht behalten. Man durfte nur nicht aufgeben. So schnell starb man nicht. Nicht einer wie er.
    In sein Gesicht stachen Nadeln, doch als sich der Schleier vor seinen Augen lüftete, erkannte er, daß es nur dürre Stoppeln waren. Er lag auf dem Bauch, schnaufte staubige Erde ein und wußte, daß er nicht mehr auf dieBeine kommen würde. Doch das machte nichts. Sein Wille war stark genug. Notfalls würde er die paar Kilometer ins Krankenhaus kriechen. Und wenn die Arme und Beine nicht mitspielten, würde er sich wie eine Viper voranschlängeln.
    Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung hob er den Kopf an. Er sah das sanft abfallende Feld, die verdorrten Sonnenblumen weit unten, das Grün der Weinstöcke am gegenüberliegenden Hang, das Wäldchen auf der Kuppe, die er überwinden mußte, um drüben zum Cesano hinabzugelangen, in dessen Bett höchstens noch ein paar Wasserlachen stehen würden. Eine willkommene Erfrischung, bevor er irgendwie die Böschung hochklettern und schon bald die Straße erreichen würde, der es dann nur noch bis Pergola zu folgen galt.
    Er schob den linken Arm nach vorn und krallte die Fingernägel in die rissige Erde. Er stemmte den Stiefel ein. Er wand den Körper. Er zog, er riß, er schob. Na also, wieder ein paar Zentimeter geschafft! Natürlich ging es noch langsam. Er mußte sich erst an die Fortbewegungsart gewöhnen. Doch was eine Schlange konnte, das konnte er erst recht. Er mußte nur immer weiterkriechen. Bis zum Ziel seines Wegs. Bis er gerettet war. Immer weiter. Nicht denken, nur kriechen.
    Er dachte nicht. Er japste um Luft. Er krümmte sich. Er biß auf Weizenstoppeln, schmeckte trockenen Staub im Mund. Ganz kurz nur schloß er die Augen. Er wollte abwarten, bis die Wolke vorbeigezogen war, vor der sein Herz erschrak. Auf sein Herz mußte er besonders achten, seit es ihm nicht mehr gehörte. Es war fest versprochen, fest vergeben. Daß Antonietta es angenommen hatte, war ein Wunder. Er konnte es immer noch nicht recht glauben. So überglücklich war er darüber, daß er keinen Schmerz mehr spürte, nur noch ihre Stimme in seinem Kopf hörte, die leise und fragend »Paolo?« flüsterte. Seinen Namen, nichts weiter. Voller Liebe und Zärtlichkeit.
    Mit ihr wurde das Leben leicht, leicht wie eine Vogelfeder. Er wußte, daß das seine Richtigkeit hatte. Alles würde gut werden, da war er sich sicherer als je zuvor. Ihm blieb nichts weiter zu tun, als dieser geliebten Stimme mit einem einzigen Wort, einer kleinen Silbe, zwei Lauten zu antworten. Dieser sanften Stimme, die alles erfüllte, was noch an Willen in ihm glomm. Er sagte: »Ja.«

7
    So groß
    schien dein Befehl mir nicht, der sterbliche,
    daß er die ungeschriebnen Gottgebote,
    die wandellosen, konnte übertreffen.
    Sophokles: Antigone, Verse 452– 455

Tag für Tag würde sich Vannoni vorhalten müssen, was er alles falsch gemacht
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