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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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ihm den Schenkel anhob, und eine zweite, die ihn ein wenig nach oben schob. Den Rest würde er locker allein erledigen. Er stöhnte. Er sah sich um. Marisa Curzio war noch nicht wieder aufgetaucht. Am anderen Ende der Piazza saßen ein paar Gestalten im Schatten vor dem Palazzo Civico. Er glaubte den alten Sgreccia zu erkennen und Franco und Vannoni und ... Wenn ihn seine Augen nicht täuschten, saßen ziemlich viele dort. Fast alle eigentlich.
    »He!« rief er.
    »Helft ... mir ... in den ... Wagen!« rief er.
    Sie hörten ihn wohl nicht. Dabei waren es doch kaum zehn Meter. Gut, die Alten mochten halb taub sein, aber daß kein einziger ...
    »Kommt her!« kreischte er.
    Sie unterhielten sich nicht einmal. Saßen nur herum. Rührten sich nicht. Wie Statuen. Als ob sie aus Stein wären. Oder tot.
    »He ... ihr!« brüllte er noch einmal. Er spürte die Fetzen seiner Lunge flattern. Er mußte sich schonen. Statt sinnlos durch die Gegend zu brüllen, sollte er lieber die paar Meter zum Ende der Piazza gehen, einem von ihnen in die Augen blicken und ihn ruhig um Hilfe bitten. Den wollte er sehen, der da nein sagte.
    Er schob sich um die Autotür. Er torkelte über die Piazza. Er keuchte. Links lag das Haus der Lucarellis. Am liebsten wäre er dort hineingegangen und ihr in die Arme gefallen, doch das durfte er nicht tun. Nicht jetzt. Nicht, wenn sich alle anderen auf der Piazza befanden. Vor ihnen konnte sie nicht zeigen, daß sie ihn liebte. Darauf mußte er Rücksicht nehmen. Er stellte sich vor, wie sie ihn durch die Lamellen eines Fensterladens beobachtete. Fast unhörbar würde sie seinen Namen murmeln. Sie würde beide Daumen drücken, daß er es schaffte. Beten würde sie dafür.
    Mach dir keine Sorgen! dachte er.
    Du! dachte er.
    Alles wird gut werden! dachte er. Alles, was zählte, war schon gut. Nur die Häuser rotierten immer schneller um die Piazza, und das Pflaster kreischte, und die toten Statuen vor ihm begannen sich zu recken, und aus der Sonne rann rote Farbe wie aus einem umgestürzten Eimer, doch das war ihm alles egal. Von ihm aus sollte die Welt zugrunde gehen. Unter seinen Stiefeln mochte sie zerspringen und im Nichts verpuffen, er würde trotzdem überleben.
    Sie sahen nicht auf, als er vor ihnen stand. Die Marcantonis, die Sgreccias, der alte Curzio, Vannoni, Milena Angiolini, der ganze Haufen. Sie sprachen über irgendeine Beerdigung, für die man noch Kränze besorgen müsse. Oder Blumenschalen, weil Kränze bei der Hitze in einemTag vertrocknet wären. Lauter unwichtiges Zeug. Sie taten so, als bemerkten sie ihn nicht.
    Er grinste. Er wußte genau, daß sie nur darauf warteten, bis er sie um Hilfe bat. Natürlich würden sie nicht nein sagen. Einen Nachbarn konnte man nicht einfach verrecken lassen. Sie wollten ihn nur betteln sehen, bevor sie sich großzügig zeigten. Doch den Gefallen würde er ihnen nicht tun. Er brauchte sie nicht, keinen von ihnen.
    Er blickte sich um. Die Umrisse seines Lieferwagens flimmerten in der kochenden Luft. Weit weg, fast auf der anderen Seite der Piazza. Irgendwie würde er schon in den Fahrersitz kommen, doch sollte er wirklich die ganze Strecke noch einmal zurückgehen? In die falsche Richtung? Da konnte er doch gleich zu Fuß ins Krankenhaus marschieren! Er war stark, der Weg führte meist bergab, die acht Kilometer nach Pergola würden ihn nicht einmal ins Schwitzen bringen. Und wenn er schnurstracks über die Felder nach unten ginge, würde er sich mindestens einen Kilometer ersparen. Er mußte sich nur genau westlich halten. Dorthin, wo die Sonne untergehen würde, sobald sie genug davon hatte, am Himmel herumzuhüpfen.
    Er schwankte durch die Gasse, bog nach rechts, torkelte Richtung Ortsausgang. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß alle aufgestanden und ihm gefolgt waren. In respektvollem Abstand. Auch wenn sie es nie zugeben würden, bewunderten sie ihn. Seine Kraft, einen Traum zu verfolgen, seinen Willen, seine Entschlossenheit. Sie gaben ihm das Geleit, doch wenn sie der Meinung waren, es sei das letzte Geleit, dann täuschten sie sich gewaltig.
    Er passierte den Abfallcontainer. Er spürte seine Füße nicht mehr, doch das war nicht tragisch, denn sie tappten wie von selbst voran. Er mußte nur darauf achten, seinen Körper über ihnen im Gleichgewicht zu halten. Er schnappte nach Luft. Davon war zuwenig da. Dafür legte der Himmel im Westen Violett, Rosa und Schwefelgelb auf, und hoch über den Zypressen am Straßenrand tanzten
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