Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
des Vorherwissens befand? Woran erkennt man, daß man von seiner eigenen Zukunft träumt?
    Wallingford schwebte über einem kleinen, dunklen See. Es mußte irgendeine Art von Flugzeug geben, sonst hätte Wallingford nicht dort sein können, doch in dem Traum sah er das Flugzeug weder, noch hörte er es. Er ging einfach nieder, näherte sich dem kleinen See, der von dunkelgrünen Bäumen, Tannen und Kiefern, umgeben war. Unmengen von Mastbaumkiefern.
    Felsnasen waren kaum zu sehen. Es sah nicht nach Maine aus, wo Wallingford als Kind im Sommerlager gewesen war. Nach Ontario sah es auch nicht aus; Patricks Eltern hatten einmal in der Georgian Bay, am Lake Huron, ein Cottage gemietet. Doch der See in dem Traum war kein Ort, an dem er je gewesen war.
    Hier und da ragte ein Anlegesteg ins Wasser, und manchmal war daran ein Boot festgemacht. Wallingford sah auch ein Bootshaus, doch seine erste körperliche Empfindung in dem Traum war das Gefühl des Stegs an seinem nackten Rücken, die durch ein Handtuch hindurch verspürte Rauheit der Planken. Wie im Falle des Flugzeugs konnte er auch das Handtuch nicht sehen; er spürte nur etwas zwischen seiner Haut und dem Steg.
    Die Sonne war gerade untergegangen. Er hatte keinen Sonnenuntergang gesehen, aber er merkte, daß die Sonnenhitze noch immer den Steg wärmte. Von Patricks fast vollkommenem Blick auf den dunklen See und die dunkleren Bäume abgesehen, bestand der Traum nur aus Empfindung.
    Er spürte auch das Wasser, aber nicht, daß er darin war. Statt dessen hatte er das Gefühl, er wäre gerade aus dem Wasser gekommen. Sein Körper trocknete auf dem Landesteg, trotzdem war ihm noch immer kühl. Dann sagte eine Frauenstimme - sie glich keiner anderen Frauenstimme, die Wallingford je gehört hatte, und war die erotischste Stimme der Welt -: »Mein Badeanzug fühlt sich so kalt an. Ich ziehe ihn aus. Willst du deine Badehose nicht auch ausziehen?«
    Von diesem Punkt in dem Traum an war sich Patrick seiner Erektion bewußt, und er hörte eine Stimme, die sehr nach seiner klang, »ja« sagen - auch er wollte seine nasse Badehose ausziehen. Zusätzlich hörte man, wie das Wasser leise gegen den Steg plätscherte und von den feuchten Badeanzügen zwischen den Planken hindurch in den See zurücktropfte.
    Er und die Frau waren jetzt nackt. Die Haut der Frau war zuerst naß und kalt und erwärmte sich dann an seiner Haut; ihr Atem strich heiß über seinen Hals, und er konnte ihr nasses Haar riechen. Außerdem hatten ihre straffen Schultern den Geruch des Sonnenlichts aufgenommen, und auf Patricks Zunge, die den Umriß ihres Ohrs nachzeichnete, lag etwas, das nach dem See schmeckte.
    Natürlich war Wallingford auch in ihr - auf dem Steg an dem wunderschönen dunklen See schliefen sie unendlich lange miteinander. Und als er acht Stunden später erwachte, stellte er fest, daß er einen feuchten Traum gehabt hatte; trotzdem hatte er immer noch den riesigsten Steifen seines Lebens.
    Die Schmerzen von der fehlenden Hand waren verschwunden. Sie würden, ungefähr zehn Stunden nachdem er die erste der kobaltblauen Kapseln eingenommen hatte, wiederkommen. Die zwei Stunden, die Patrick warten mußte, ehe er eine zweite Kapsel nehmen durfte, kamen ihm wie eine Ewigkeit vor; in jener trostlosen Zwischenphase konnte er mit Dr. Chothia über nichts anderes als die Tablette reden. »Was ist da drin?« fragte Wallingford den fröhlichen Parsi. »Entwickelt worden ist sie als Mittel gegen Impotenz«, sagte ihm Dr. Chothia. »Aber sie hat nicht gewirkt.« »Und wie sie wirkt«, meinte Wallingford.
    »Tja... offensichtlich nicht gegen Impotenz«, antwortete der Parsi. »Gegen Schmerzen, ja - aber das hat man zufällig festgestellt. Bitte denken Sie daran, was ich gesagt habe, Mr. Wallingford. Nehmen Sie auf keinen Fall zwei.«
    »Am liebsten würde ich drei oder vier nehmen«, erwiderte Patrick, doch an diesem Punkt legte der Parsi seine gewohnte Fröhlichkeit ab. »Nein, das würden Sie nicht - glauben Sie mir«, warnte ihn Dr. Chothia. Solange er noch in Indien war, hatte Wallingford - einzeln und im vorgeschriebenen Abstand von zwölf Stunden - zwei weitere von den kobaltblauen Kapseln eingenommen, und Dr. Chothia hatte ihm noch eine für den Flug mitgegeben. Patrick hatte den Parsi darauf hingewiesen, daß der Rückflug nach New York mehr als zwölf Stunden dauerte, doch der Arzt gab ihm für den Zeitpunkt, zu dem die Wirkung der letzten Feuchter-Traum-Pille nachlassen würde, nichts Stärkeres
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher