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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand
Autoren: John Irving
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Trost fand Patrick darin, daß er, wenn nicht das Gesicht, so doch immerhin das Profil seines ungerührten Kameramannes sah, der in der Wahrnehmung seiner Hauptaufgabe keinen Augenblick wankend wurde. Der unbeirrbare Profi ging näher an den Löwenkäfig heran, wo er einfing, wie sich die Löwen auf nicht sehr manierliche Weise die wenigen Überreste von Patricks Hand samt Handgelenk teilten. Wenn das kein echter Knaller war!
    In den nächsten ein, zwei Wochen sah sich Wallingford immer wieder den Filmstreifen an, der zeigte, wie ihm seine Hand geraubt und wie sie verzehrt wurde. Ihn verwirrte, daß der Angriff ihn an etwas Rätselhaftes erinnerte, das seine akademische Betreuerin zu ihm gesagt hatte, als sie die Affäre beendete: »Eine Zeitlang ist es schmeichelhaft, mit einem Mann zusammenzusein, der sich so ganz und gar in einer Frau verlieren kann. Andererseits ist so wenig Eigenes in dir, daß ich den Verdacht habe, du könntest dich in jeder Frau verlieren.« Was in aller Welt sie damit gemeint haben mochte und wieso ausgerechnet das Gefressenwerden seiner Hand ihn veranlaßt hatte, sich an die kritischen Bemerkungen der Frau zu erinnern, wußte er nicht.
    Hauptsächlich aber bekümmerte Wallingford an den weniger als dreißig Sekunden, die ein Löwe gebraucht hatte, um seine Hand samt Handgelenk zu verputzen, daß die atemberaubenden Bilder von ihm selbst einen Patrick Wallingford zeigten, wie man ihn noch nie gesehen hatte. Tiefstes Grauen hatte er nie zuvor erlebt. Die schlimmsten Schmerzen kamen später.
    In Indien nutzte der Minister, der Tierschützer war, aus nie ganz einsichtigen Gründen die Handfreßepisode, um den Kreuzzug gegen den Mißbrauch von Zirkustieren voranzubringen. Inwiefern es einen Mißbrauch darstellte, daß die Löwen seine Hand gefressen hatten, blieb Patrick verborgen.
    Ihn beunruhigte vielmehr, daß alle Welt gesehen hatte, wie er sich vor Schmerzen und Angst krümmte und schrie; er hatte sich vor laufender Kamera in die Hose gemacht - nicht daß auch nur ein einziger Fernsehzuschauer das wirklich mitbekommen hätte. (Er hatte eine dunkle Hose angehabt.) Trotzdem wurde er von Millionen bemitleidet, vor deren Augen er entstellt worden war.
    Noch fünf Jahre später, wann immer Wallingford sich an den Vorfall erinnerte oder davon träumte, beschäftigte ihn vorwiegend die Wirkung des Schmerzmittels. In den Vereinigten Staaten war das Medikament nicht erhältlich, jedenfalls hatte der indische Arzt ihm das gesagt. Seither hatte er versucht herauszufinden, worum es sich handelte. Wie immer das Mittel auch hieß, es hatte Patricks Bewußtsein von seinen Schmerzen gehoben und ihn zugleich völlig von den Schmerzen selbst distanziert; er war sich vorgekommen wie der gleichgültige Beobachter eines anderen. Und indem das Mittel sein Bewußtsein hob, bewirkte es viel mehr, als nur seine Schmerzen zu lindern. Der Arzt, der ihm das in Form einer kobaltblauen Kapsel dargereichte Medikament verschrieben hatte - »Nehmen Sie nur eine, Mr. Wallingford, und zwar alle zwölf Stunden« -, war ein Parsi, der ihn nach dem Löwenangriff in Junagadh behandelte. »Es verhilft Ihnen zu dem schönsten Traum, den Sie je haben werden, aber es hilft auch gegen Schmerzen«, fügte Dr. Chothia hinzu. »Nehmen Sie auf keinen Fall zwei. Amerikaner nehmen immer zwei Tabletten auf einmal. Diesmal nicht.« »Wie heißt es denn? Es hat ja wohl einen Namen.« Wallingford betrachtete das Mittel mit Argwohn.
    »Wenn Sie eine genommen haben, wissen Sie sowieso nicht mehr, wie es heißt«, sagte ihm Dr. Chothia fröhlich. »Und in Amerika werden Sie den Namen nicht hören - Ihre Verbraucherschutzbehörde wird es niemals zulassen!«
    »Wieso?« fragte Wallingford. Er hatte die erste Kapsel noch immer nicht genommen.
    »Nur zu - nehmen Sie sie! Sie werden schon sehen«, sagte der Parsi. »Es gibt nichts Besseres.«
    Trotz seiner Schmerzen hatte Patrick keine Lust, auf irgendeinen Drogentrip zu gehen.
    »Bevor ich sie nehme, will ich wissen, warum die Verbraucherschutzbehörde sie niemals zulassen wird«, sagte er. »Weil sie soviel Spaß macht!« rief Dr. Chothia. »Und dagegen hat Ihre Verbraucherschutzbehörde etwas. Nun nehmen Sie sie schon, ehe ich Ihnen den Spaß verderbe und Ihnen ein anderes Mittel verschreibe!« Die Tablette hatte Patrick eingeschläfert - oder war es gar kein Schlaf? Für Schlaf jedenfalls war seine Wahrnehmung viel zu geschärft. Aber woher hätte er wissen sollen, daß er sich in einem Zustand
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