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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand
Autoren: John Irving
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Zirkus verkauft worden war? Wenn ihr verstorbener Mann vor einer Kindheit ohne Zukunft bewahrt worden war, nur um unter der großen Kuppel vom Schicksal - seiner aus fünfundzwanzig Meter Höhe in seine Arme fallenden Frau - ereilt zu werden? Das wäre doch interessant gewesen. Statt dessen interviewte Patrick den sich ständig wiederholenden Zirkusdirektor vor dem Löwenkäfig - dieses banale Zirkusbild war es, was man in New York unter »zusätzlichem Lokalkolorit« verstand. Kein Wunder, daß das Interview im Vergleich zu Wallingfords Nacht mit der deutschen Tontechnikerin enttäuschend wirkte. Monika mit k machte in ihrem T-Shirt ohne BH sichtlich Eindruck auf die Fleischwallahs, die an der Kleidung der Deutschen - oder deren Spärlichkeit - Anstoß nahmen. In ihrer Angst, ihrer Neugier, ihrer moralischen Empörung hätten sie ein besseres und authentischeres Moment von zusätzlichem Lokalkolorit abgegeben als der langweilige Zirkusdirektor.
    In der Nähe des Löwenkäfigs, doch allem Anschein nach zu ängstlich, zu verblüfft oder zu empört, um näher zu kommen, verhielten die Moslems wie unter Schock. Ihre Holzkarren waren hoch mit dem süßlich riechenden Fleisch beladen, das bei den weitgehend vegetarisch lebenden (hinduistischen) Zirkusleuten unendlichen Ekel hervorrief. Natürlich rochen auch die Löwen das Fleisch und ärgerten sich über die Verzögerung. Als die Löwen zu brüllen anfingen, zoomte der Kameramann auf sie, und Patrick Wallingford - der einen Moment echter Spontaneität erkannte - hielt sein Mikrofon ganz nahe an ihren Käfig. Er bekam einen besseren Knaller, als er erwartet hatte.
    Eine Pranke schoß hervor; eine Klaue erwischte Wallingfords linkes Handgelenk. In weniger als zwei Sekunden wurde sein linker Arm bis zum Ellbogen in den Käfig gerissen. Seine linke Schulter knallte gegen die Gitterstäbe; seine linke Hand steckte samt mehreren Zentimetern Unterarm im Maul eines Löwen.
    In dem nun folgenden Tohuwabohu stritten sich zwei andere Löwen mit dem ersten um Patricks Hand und Handgelenk. Der Löwendompteur, der sich nie weit von seinen Tieren entfernte, griff ein; er schlug die Tiere mit einer Schaufel ins Gesicht. Wallingford blieb lange genug bei Bewußtsein, um die Schaufel zu erkennen - sie wurde hauptsächlich als Schippe für das große Geschäft der Löwen verwendet. (Er hatte sie erst kurz zuvor in Aktion gesehen.)
    Patrick kippte irgendwo in der Nähe der Fleischkarren um, nicht weit von der Stelle, wo Monika mit k aus innerer Verbundenheit ebenfalls das Bewußtsein verloren hatte. Die Deutsche allerdings war, zur nicht geringen Bestürzung der Fleischwallahs, in einen der Fleischkarren gefallen; und als sie wieder zu sich kam, mußte sie feststellen, daß man ihr, während sie bewußtlos in dem feuchten Fleisch lag, den Werkzeuggürtel gestohlen hatte.
    Die deutsche Tontechnikerin behauptete außerdem, jemand habe während ihrer Ohnmacht ihre Brüste begrapscht - zum Beweis dafür hatte sie fingerabdruckgroße Quetschungen an beiden Brüsten. Unter den Blutflecken auf ihrem T-Shirt waren allerdings keine Handabdrücke. (Die Blutflecken stammten von dem Fleisch.) Wahrscheinlich rührten die Quetschungen an ihren Brüsten eher von ihrer Liebesnacht mit Patrick Wallingford her. Wer immer so dreist gewesen war, ihren Werkzeuggürtel zu klauen, hatte wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, ihre Brüste anzufassen. Ihre Kopfhörer hatte niemand angerührt. Wallingford seinerseits war von dem Löwenkäfig fortgezerrt worden, ohne zunächst wahrzunehmen, daß seine linke Hand samt Handgelenk weg war; er bemerkte jedoch, daß die Löwen noch immer um irgend etwas rauften. Im selben Moment, in dem ihm der süßliche Geruch des Hammelfleisches in die Nase stieg, wurde er gewahr, daß die Moslems von seinem herabbaumelnden linken Arm wie gebannt waren. (Die Kraft, mit der der Löwe gezogen hatte, hatte Patrick die Schulter ausgerenkt.) Und als er hinschaute, sah er, daß seine Uhr fehlte. Um die tat es ihm nicht leid - er hatte sie von seiner Frau geschenkt bekommen. Natürlich hinderte nichts mehr die Uhr daran, abzurutschen; seine linke Hand samt Handgelenk fehlte ebenfalls.
    Wallingford hatte, da er unter den moslemischen Fleischwallahs kein vertrautes Gesicht sah, zweifellos gehofft, Monika mit k auszumachen, voller Entsetzen, aber gleichwohl bewundernd. Leider lag die Deutsche in einem der Hammelfleischkarren mit abgewandtem Gesicht platt auf dem Rücken.
    Einen gewissen bitteren
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