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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen
Autoren: Berndt Schulz
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lösen ein einziges Rätsel, obwohl sie dafür da sind.
    Zum Beispiel das Rätsel der Frau Lorelay, die eine Zauberinne war. Was konnte sie verzaubern? Vielleicht sich selbst. Und dann war sie gar nicht tot. Eine andere war den Berg runtergerollt, irgendeine andere. Und die Frau Lorelay lachte oder weinte und versteckte sich eine Zeit lang. Irgendwann, wenn alle die Sache vergessen hatten, war sie wieder da.
    Dass es mir nur könnte werden, lieben und geliebt zu werden. Und nun sprach Frau Lorelay ihm siebenmal zurück: Lieben und geliebt zu werden!
    »Kommt mal hierher!«, rief der Vater.
    Martin sah über sich eine Schar Vögel herumtorkeln. Er ahmte ihren Flug mit ausgebreiteten Armen nach. Dann stürzten die Vögel den Berg hinunter und fielen ins Wasser. Martin rannte in Schlangenlinien zu seinem Vater.
    »Hier!«, sagte der Vater. Er wartete, bis auch der Großvater sich genähert hatte. »Schaut euch das an. Hier sind Spuren. Irgendwas Rotes. Was sagst du dazu, Martin?«
    Flügelschlag ist Flügelschlag, dachte Martin und blickte zum Himmel. Dort sah er aber nichts mehr.
    »Eine Coladose«, sagte Martin leise.
    »Nein, schau doch genauer hin. Du willst doch mal Polizist werden, dann musst du an Tatorten ganz genau hinsehen. Der erste Eindruck ist immer der entscheidende.«
    Ich will Tänzer werden, dachte Martin.
    »Da liegt doch eine Coladose im Gestrüpp!«, ließ sich der Großvater vernehmen, dessen Kleidung ganz verrutscht war. »Alu kommt jetzt ganz groß in Mode, aus Flaschen schmeckt es ihnen nicht mehr.«
    »Tatsächlich«, musste der Vater zugeben. »Aber das ist nicht wichtig. Man muss die Dinge unterscheiden lernen. Schaut euch diesen langen, roten Faden an.«
    »Sieht aus wie eine Blutspur, ist aber keine«, sagte der Großvater. »Polizisten sehen zu viel Gemeines. Das hier ist tatsächlich nur ein Faden, Gütermanns Nähseide, 1a Qualität. Das erkenne ich doch.«
    Martin blickte von einem zum anderen. Erwachsene bringen es tatsächlich fertig, dass Märchen verschwinden, dachte er. Sie verlieren sich in ihren Sätzen sogar selbst. Ist das ein Spiel? Ich müsste hier allein sein, sinnend auf die Strahlen lauern . Das mache ich auch. Wir sind ja noch einen ganzen Tag in der Gegend. Aber wie soll ich herkommen? Vielleicht per Anhalter. Für das Rad ist es zu weit. Und ich habe ja auch gar kein Rad.
    Wir werden schon sehen!

    Der Junge starrte auf das grüne Leuchten, tief drinnen in dem Auge wohnte der Sender Hilversum. Martin versuchte sich vorzustellen, wo Hilversum lag. Niemand kannte es. Aber von dort sendeten sie diese Lieder. Und dabei vibrierte der aufgeraute, von Tabakqualm gebräunte Stoff rund um das magische Auge. Martin legte das Ohr an die Haut über der Membrane, gleich darauf drangen die Töne durch seinen Kopf, dann durch seinen ganzen Körper, bis in die Zehenspitzen. Er schloss die Augen, hörte dem Gesang zu, die Zahl Sieben zog durch ihn hindurch, schlängelte sich durch seine inneren Welten und löste sich als rotes Band auf, ohne ihn wirklich zu verlassen.
    Siebenmal in der Woche möcht’ ich tanzen, siebenmal möcht’ ich glücklich sein mit dir, siebenmal, siebenmal, das ist meine Lieblingszahl, siebenmal   …
    »Martin! Hörst du nicht?«
    Martin fuhr zusammen und blickte seinen Vater an. »Doch!«
    »Na also. Dann hab die Güte und verschwinde für einen Moment von deinem Lauschposten. Ich möchte die Nachrichten hören. In Berlin geht es drunter und drüber. Vielleicht gibt es Krieg.«
    Die Tante und der Onkel waren auch in der Wohnküche. Sie sahen ebenso besorgt aus wie Vater. Martin zog sich zurück, setzte sich an den Tisch, der von einer störrischen Kunststoffdecke überspannt war, die seltsam roch. Der Schlager verstummte, es jaulte im Radio, als Vater am Rädchen drehte, eine in Rauschen eingelegte Stimme ertönte, es wurde lauter gedreht. In Berlin passierte tatsächlich etwas. Aber was war eine atomare Bedrohung?
    »Sie haben es prophezeit, jetzt ist es eingetreten«, sagte Großvater. »Jetzt weiß niemand, was wird.«
    »Wer hat es prophezeit?«, wollte Martin Velsmann wissen.
    »Na die Politiker, sie arbeiten doch andauernd daran!«
    »Unsinn«, sagte der Onkel in seinem breiten Dialekt. »Niemand hat es prophezeit. Es ist einfach geschehen. Die Ostler glauben doch nicht an Prophezeiungen und Weissagungen, vielleicht vom Anbeginn der Welt, oder wie? Die schaffen sich ihren Anfang selbst und machen, was sie wollen!«
    »Sag ich ja, deshalb ist es
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