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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen
Autoren: Berndt Schulz
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prophezeit«, beharrte der Großvater. »Die Politik schafft das, es ist doch als Drohung dauernd da, hörst du das nicht?«
    »Ach was!«
    »…   als Verheißung aus der Vergangenheit. Seit eh und je ist es da, es steht doch schon in der Bibel, und sie machen immer weiter, begreift ihr das nicht? Jetzt arbeiten sie es Stück für Stück ab. Die Politik ist dafür zuständig und macht es nur noch schlimmer. Und wir sind davon abhängig.«
    »Und was sollen wir deiner Meinung nach dagegen tun, Senior?«
    »Gar nichts! Wir können dagegen nichts tun, sie haben uns am Wickel!«
    »Ach nee!«
    »Seid doch mal ruhig«, sagte Vater und hob den Zeigefinger.
    Alle schwiegen und lauschten den Nachrichten im Radio. Ihre Gesichter wurden immer länger. Martins Beine begannen zu zittern. Seine Finger krabbelten über die seltsam riechende Tischdecke. Seine Blicke tasteten sich an dem unbegreiflichen, wie lackiert wirkenden Muster der Rolltapete an den Wänden entlang, sogar die Decke war tapeziert. Der Radiosender in seinem Kopf sendete weiter die Hitparade und eine Stimme sagte: Diese Woche auf Platz drei, Illo Schieder und »Sieben einsame Tage«. Martin sang das einsetzende Lied stumm mit.
    Er stellte sich Illo Schieder als Frau Lorelay vor. Sie bewegte sich traurig zur Musik. Was soll das bedeuten, dachte Martin, jetzt geht alles durcheinander. Vielleicht werde ich ein Dichter.
    »Hör mal, Martin!«, rief die Tante. Aber sie meinte nicht den Jungen, und auch nicht dessen Vater, sondern den Großvater. »Wir sollten dann essen. Essen muss man auch unter einer atomaren Bedrohung.«
    »Dann sogar erst recht«, behauptete Großvater Martin.
    Die drei Männer am Radio richteten sich auf, der Onkel drehte den abschließenden Wetterbericht leiser, sie kamen zum Tisch. Großvater verströmte eine so starke Wolke von Balsam Acht , dass Martin nicht riechen konnte, was die Tante im Kochtopf hatte. Vorher hatte es nach Kohl gerochen. Sie deckte, tischte auf und da endlich alle saßen, begannen sie zu essen. Martin merkte, wie hungrig er war.
    »Sie machen Ernst«, sagte der Vater.
    »Vielleicht sollten wir hierbleiben«, kicherte der Großvater. »In den Weinbergen kann uns doch gar nichts passieren. Und das Manna gibt es kostenlos.«
    »Ausgerechnet!«, sagte der Onkel laut und kaute so vorsichtig, als hätte er Zahnschmerzen. »Hier wimmelt es doch von unterirdischen Atomanlagen! Hier geht alles mit einmal hoch, wenn es den Herren Besatzern passt!«
    »Das stimmt«, sagte die Tante. »Niemand weiß es genau. Aber ich spüre es manchmal, wie sich unter uns der Boden bewegt, wenn die Raketen in die Abschussrampen einfahren. Es grummelt dann so, dass ich aufwache. Unter uns ist ja alles ausgehöhlt.«
    »Na, ganz so schlimm ist es nicht«, wiegelte der Onkel ab. »Aber in Sicherheit ist hier im Rheingau keiner, dazu gibt es zu viele Atombunker, das steht fest.«
    »Martin, iss noch! Du bist so dünn!«
    Diesmal war der Junge gemeint. Aber Martin war satt.
    »Er ist so dünne, weil er dauernd tanzt«, meinte Großvater. »Und das kommt daher, dass er diesem Tanzorden angehört.«
    »Was ist los?«, wollte der Vater wissen und legte die Gabel beiseite.
    »Ach nichts!«
    »Nun erzähl schon! Ich sollte wohl Bescheid wissen, wenn mein Sohn einem   …«
    »Er ist Mitglied im Orden der Philochoreiten, wusstest du das nicht?«
    Martin blickte den feixenden Großvater an. Jetzt würde eine seiner verrückten Lügengeschichten folgen.
    »Wovon redest du eigentlich, Papa! Kannst du mal deutlicher werden?«
    »Nun«, sagte der Großvater und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Er probt heimlich, wie alle Besessene dieses Ordens. Ein geheimer Tanzorden, müsst ihr wissen, sehr mysteriös. Im 19.   Jahrhundert ganz berühmt, aber erst seitdem Martin ihm angehört, wirklich bedeutsam. Und das kam so   –«
    »Ach, nun hör doch auf, Papa!«, entfuhr es Martins Vater Martin. Das ist doch nur wieder eine deiner Schrullen! Hahaha! Und ich hab’ schon geglaubt   …«
    Martin war selig. In der Bibliothek des Onkels würde er später nachsehen, ob es diesen Orden tatsächlich gab. Und ob er tatsächlich Mitglied war. Jetzt fühlte er sich erstmal geborgen, am richtigen Platz, in Sicherheit. Endlich wieder einmal. Eigentlich zum ersten Mal, seit Mutter gestorben war. Er blickte von einem zum anderen, und als die Erwachsenen begannen, erneut über Berlin zu reden, spürte er, wie müde er war.
    Man erlaubte ihm, schlafen zu
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