Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Autoren: Jane Casey
Vom Netzwerk:
Er versuchte das Blut aufzuhalten, indem er seine Hände stöhnend auf seinen Hals presste. Doch das Blut sickerte durch seine Finger und lief ihm die Arme hinab, bis es auf die weißen Fliesen spritzte. Mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen taumelte er rückwärts gegen die Küchenschränke, sackte zusammen und landete auf einem Knie. Das Blut fing an, sich in Lachen um ihn herum zu sammeln und auf dem Küchenboden auszubreiten, wobei es seinen Weg zuerst in den Fugen zwischen den Fliesen nahm. Unglaublich, wie viel es war, dachte ich, und fast augenblicklich traf mich der Widerhall des Gedankens. Aber wer hätte gedacht, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich hätte? Ich hatte getan, was richtig war. Es ließ sich genauso wenig rückgängig machen, wie man Jenny nicht wieder zum Leben erwecken konnte.
    » Bitte…«
    Wieder wich ich zurück, noch mit der Schere in der Hand und glitschigem, klebrigem Blut am Arm und im Haar. Ich sah ihm in die Augen und dachte daran, auf wie vielfältige Weise er seine Familie im Stich gelassen hatte. Dabei musste ich auch an meinen eigenen Vater denken und begriff, dass er mich auf seine Art auch im Stich gelassen hatte, und an meine Mutter, die so viel hatte erdulden müssen und dabei so wenig Respekt für mich gezeigt hatte, und ich war froh– froh, dass ich es endlich jemandem heimzahlen konnte. Froh, dass jemand leiden musste für all das Unrecht, das man mir und meiner Umgebung angetan hatte, froh, dass er es war. Jenny war gleich in zweifacher Hinsicht zum Opfer geworden. Sie hätte schließlich von ihm erwarten können, dass er sie beschützt, statt sie zu ermorden.
    In diesem Augenblick hasste ich sie alle, all diese Männer, die glaubten, dass andere nur dazu da waren, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Ich hasste Daniel Keane und seinen grausamen Vater; ich hasste die gesichtslosen Männer, die Schlange standen, um sich an unschuldigen Kindern zu vergehen. Und ich hasste den Mann da vor mir, der in meinen Augen stellvertretend für alle anderen stand– er war der einzige innerhalb meiner Reichweite. Ich schaute ihm in die Augen und wartete darauf, dass er starb. Nicht einen Finger rührte ich, um ihm zu helfen. Es dauerte kaum länger als eine Minute. Nicht lange. Aber es kam mir endlos vor.
    Erst als er noch die letzten Zentimeter hinunter auf den Boden gerutscht war und sein Blick starr wurde, bewegte ich mich wieder und legte die Schere zurück. Auf allem, was ich berührte, hinterließ ich rote Schmierflecken. Ich drehte den Hahn auf und ließ das Wasser in meinen Mund fließen, spülte sehr gründlich und spuckte es wieder aus. Der metallische Geschmack verursachte mir einen Brechreiz. Noch immer riecht es hier nach Blut …
    Ich wusch mir die Hände mit viel Seifenschaum und färbte das Wasser rosa mit Michael Shepherds Blut. Selbst unter meinen Fingernägeln war Blut, und ich versuchte hektisch, es zu entfernen. Als meine Hände endlich sauber waren, setzte ich mich an den Küchentisch. Plötzlich fühlte ich mich sehr erschöpft. Ich nahm mein Telefon in die Hand und starrte es an. Ich musste Vickers anrufen. Ich musste ihm sagen, was passiert war, weil ich schnellstens hier rausmusste. Aber bevor ich jemanden anrief– bevor irgendjemand sah, was ich getan hatte–, brauchte ich eine glaubwürdige Geschichte.
    Doch im nächsten Augenblick waren sämtliche Überlegungen, wie ich mich selbst retten konnte, schon wieder verflogen. Hinter mir hörte ich ein Geräusch, und ohne hinzusehen wusste ich, dass ich mich gewaltig verschätzt hatte.
    Als ich mich umdrehte, schaute Valerie mir direkt ins Gesicht. Sie hatte es geschafft, sich aufzusetzen und lehnte an einem der Schränke. Der Bolzen steckte ihr immer noch im Rücken, aber sie lebte.
    Als ich aufstand und zu ihr ging, sah ich, wie ihre Augen flackerten. Ich begriff, dass sie Angst hatte– vor mir. Deshalb blieb ich einige Schritte von ihr entfernt stehen.
    » Großer Gott, Valerie. Ich dachte, Sie sind tot. Wie geht es Ihnen?«
    » Ich habe…«, sagte Valerie leicht keuchend, » alles mit angehört. Sie hätten ihn nicht töten müssen. Er wollte… Sie… gehen lassen.«
    » Das wissen Sie doch gar nicht.« Ich fing an zu zittern.
    » Ich habe ihn genau gehört.« Ihre Augen waren kalt. » Ich werde… allen sagen , was Sie getan haben. Sie… haben ihn… ermordet.«
    Ich sah auf sie herab und hasste sie. Ich hasste sie wirklich.
    » Ja und? Denken Sie tatsächlich, das interessiert jemanden?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher