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Die Verlorenen

Die Verlorenen

Titel: Die Verlorenen
Autoren: Vampira VA
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seine Lider regelrecht miteinander verschweißte.
    Die Hand in Augenhöhe zu bringen, ging fast über seine Kräfte. Zentimeterweise ließ er seine Finger wie eine fünfbeinige Spinne durch den Staub auf sein Gesicht zukriechen, dann zupfte er leise stöhnend die krustige Substanz von seinen Lidern, bis er sie endlich aufschlagen konnte. Und auch diese im Grunde lächerliche Bewegung schien ihm unsagbar mühsam.
    Er lag noch an derselben Stelle, an der er zu Boden gegangen war, nachdem etwas ihn am Kopf getroffen hatte .
    Agamemnon fuhr hoch. Oder er wollte es zumindest. Der Schmerz, der bei der geringsten Bewegung in jeder Faser seines Körpers explodierte, ließ ihn den Gedankenbefehl eiligst widerrufen.
    Erst jetzt war ihm eingefallen, weshalb er hier lag. Was zuvor ge-schehen war. Nur - was war danach noch passiert, nachdem er selbst von der Bühne des Geschehens abgetreten war? Was war mit - »Semiramis?«
    Agamemnon wollte nach ihr rufen, doch aus seiner trockenen Kehle kam nicht mehr als ein Krächzen, so schwach, daß es kaum seine eigenen Ohren erreichte.
    Soldaten hatten die Plantage - angegriffen? So mußte es wohl gewesen sein. Der Sklave erinnerte sich an die Schreie der La Fore-Brü-der und Vandermeeres.
    Aber was hatten die Angreifer mit ihrer Attacke bezweckt? Und warum hatten sie, wie Semiramis gesagt hatte, sowohl Uniformen der Union als auch der Rebellen (so nannte man die Südstaatler im Norden, und hinter vorgehaltener Hand hatten die Schwarzen diese Bezeichnung übernommen) getragen?
    Agamemnon hatte bislang vom Krieg wenig mitbekommen, wie die meisten Sklaven. Im Süden wurden Schwarze nicht zum Armeedienst herangezogen, im Gegensatz zum Norden. Dort kämpften sie Seite an Seite mit den Weißen, was allerdings noch nicht bedeutete, daß sie sich als »Brüder« fühlten .
    Aber Agamemnon wußte zumindest, daß es in diesem Krieg nicht nur die Parteien Union und Konföderierte gab. Dazwischen gab es verschiedene Gruppierungen, die weder für die Sache des Südens noch für die des Nordens kämpften, sondern allein auf eigene Rechnung. Deserteure und lichtscheues Gesindel fanden sich da zusammen, um unter dem Deckmantel des Krieges plündernd, brandschatzend und mordend durchs Land zu ziehen - nahezu unbehelligt. Denn die Armeen hatten anderes zu tun, als sich um diese Banden zu kümmern, die ihnen ja mitunter sogar - je nachdem, wo sie gerade zuschlugen - die Arbeit abnahmen .
    Möglicherweise war es ja eine solche Räuberbande gewesen, die Resolute überfallen hatte. Ja, Agamemnon war fast sicher, daß es sich so verhalten mußte. Siedendheiß war das Gefühl des Schre-ckens, das ihn durchlief.
    »Semiramis!« rief er wieder, noch immer zu leise, als daß jemand, der weiter als zwei Schritte entfernt stand, ihn hören konnte. Wieder versuchte der Schwarze sich hochzustemmen, und diesmal ignorierte er den Schmerz, der damit einherging, mit zusammengebissenen Zähnen.
    Auf Händen und Knien verharrte er. Wie in der Bewegung des Moments eingefroren, starr vor Grauen.
    Er erinnerte sich auf einer tieferen Ebene seines Bewußtseins, daß außer dem Licht der Morgensonne und dem Schmerz noch etwas anderes ihn geweckt hatte.
    Geräusche, die er nicht hatte identifizieren können.
    Jetzt sah er, woher sie kamen, wer sie verursachte.
    Die La Fore-Brüder hatten den Überfall der marodierenden Bande nicht mit dem Leben bezahlt. Überhaupt konnte Agamemnon keine Spuren von Verwüstung ausmachen, soweit er das in der einen Sekunde erkennen konnte, die er für einen flüchtigen Rundblick zu erübrigen in der Lage war, ehe das Entsetzen ihn lähmte.
    Und auch Cuffey hatte die grausame Folter durch Rudge Vander-meere überlebt. Agamemnon hörte den Schwarzen stöhnen. Er lag noch immer gefesselt da drüben, kaum zwanzig Schritte entfernt.
    Die drei La Fore-Brüder knieten um ihn herum. Wie zu groß geratene Katzen um eine gemeinsame Schale Milch.
    Schlürfend und schmatzend leckten sie das Blut aus Cuffeys Wunden.
    *
    Über Nacht hatte sich alles geändert auf Resolute, wenn auch der Schein trügen mochte. Denn auf den ersten Blick schien durchaus alles beim alten, nahm das tägliche Leben seinen gewohnten Gang. Darunter jedoch, unter dieser hauchdünnen Schicht südstaatlicher Normalität, war die Welt nicht nur aus den Fugen geraten, sondern eingestürzt. Und aus ihren Trümmern war eine neue entstanden; eine Welt, in der nur Angst gedieh, von namenlosen Schrecken genährt.
    Agamemnon versuchte dieses
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