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Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
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und ihre Angst, nachts Auto zu fahren. Beim Zuhören klopfte Elizabeth ungeduldig mit dem Fuß an den Hinterreifen. In wenigen Minuten würde Meredith fort sein und mich schutzlos auf dem mit Kies bestreuten Platz zurücklassen. Also schlich ich mich geduckt und rückwärts davon, machte einen Satz hinter einen Walnussbaum, richtete mich auf und rannte los.
    Am Ende der Baumreihe kroch ich zwischen die Reben, versteckte mich in einer dichten Pflanze und zog die losen Ranken um meinen mageren Körper. In meinem Unterschlupf hörte ich, wie Elizabeth auf mich zukam, und als ich die Ranken zurechtschob, konnte ich sehen, wie sie eine der Reihen entlangging. Erleichtert nahm ich die Hand vom Mund, als sie meine Reihe links liegenließ.
    Ich streckte die Hand aus, pflückte eine Traube vom nächstbesten Büschel ab und biss in die dicke Haut. Die Traube war sauer. Ich spuckte sie aus und zertrat das restliche Büschel, Traube für Traube, dass mir der Saft zwischen den Zehen hervorquoll.
    Ich bemerkte nicht, dass Elizabeth umgekehrt war. Als ich gerade anfing, das zweite Büschel Trauben zu zerquetschen, griff sie in die Rebe, packte mich an den Armen und zerrte mich aus meinem Versteck. Dann hielt sie mich mit ausgestreckten Armen hoch. Meine Füße schwebten drei Zentimeter über dem Boden, während sie mich musterte.
    »Ich bin hier aufgewachsen«, meinte sie. »Ich kenne alle guten Verstecke.«
    Ich wollte mich befreien, aber Elizabeth umklammerte meine Arme. Auch als sie mich auf die Füße stellte, wurde ihr Griff nicht lockerer. Ich wirbelte Staub in Richtung ihrer Schienbeine, und da sie mich immer noch nicht losließ, trat ich sie gegen die Knöchel. Sie wich nicht zurück.
    Mit einem Knurren wollte ich sie in den Finger beißen, doch sie sah es kommen und griff nach meinem Gesicht. Sie drückte mir die Wangen zusammen, bis meine Kiefer sich lockerten und es mir die Lippen zusammenschob. Vor Schmerzen schnappte ich nach Luft.
    »Hier wird nicht gebissen«, sagte sie und beugte sich vor, als wolle sie mich auf die geschürzten Lippen küssen. Wenige Zentimeter vor meinem Gesicht hielt sie inne und bedachte mich mit einem bohrenden Blick aus dunklen Augen. »Ich werde gerne angefasst«, fügte sie hinzu. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen.«
    Dann grinste sie belustigt und gab mein Gesicht frei.
    »Niemals«, schwor ich. »Ich werde mich nie daran gewöhnen.«
    Doch ich hörte auf, mich zu wehren, und ließ mich von ihr auf die Veranda und ins kühle, dunkle Haus ziehen.

3.
    M eredith bog vom Sunset Boulevard ab und fuhr viel zu langsam die Noriega Street hinunter, wobei sie jedes Straßenschild las. Hinter uns hupte ein ungeduldiger Autofahrer.
    Seit der Fell Street redete sie wie ein Wasserfall. Die Liste der Gründe, warum mein Überleben in den Sternen stand, war so lang, dass sie sich vermutlich über halb San Francisco erstreckt hätte: kein Highschool-Abschluss, kein Antrieb, keine Beziehungen, nicht die Spur von gesellschaftlichen Umgangsformen. Dann erkundigte sie sich nach meinen Plänen und verlangte, ich solle mich mit dem Gedanken anfreunden, endlich selbständig zu werden.
    Ich tat, als wäre sie nicht vorhanden.
    Es war zwischen uns nicht immer so gewesen. Als kleines Kind hatte ich ihren geschwätzigen Optimismus in mich aufgesaugt und auf der Bettkante gesessen, während sie mein dünnes Haar kämmte, flocht und mit einer Schleife zusammenband, um mich wie ein Geschenk einer neuen Mutter und einem neuen Vater zu überreichen. Doch als die Jahre vergingen und ich von einer Familie nach der anderen zurückgegeben wurde, kühlte Merediths Zuversicht merklich ab. Die früher so sanfte Haarbürste ziepte nun und bewegte sich im Gleichtakt mit ihren Gardinenpredigten. Die Aufstellung der Verhaltensregeln wurde mit jedem Vermittlungsversuch länger und hatte immer weniger mit dem Kind zu tun, für das ich mich hielt. Meredith führte in ihrem Terminkalender eine Liste mit meinen Verfehlungen, die sie dem Richter vortrug, als handle es sich um ein Vorstrafenregister. Abweisend. Aufbrausend. Verstockt. Uneinsichtig. Ich erinnere mich noch an jedes ihrer Worte.
    Doch trotz ihrer Frustration beharrte Meredith hartnäckig darauf, mich weiter zu betreuen. Sie weigerte sich, mich für unvermittelbar erklären zu lassen, obwohl ein erschöpfter Richter im Sommer, als ich acht Jahre alt wurde, andeutete, sie habe vielleicht alles Menschenmögliche versucht. Meredith stritt das rundheraus ab. Einen
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