Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Die verborgene Sprache der Blumen / Roman

Titel: Die verborgene Sprache der Blumen / Roman
Autoren: Vanessa Diffenbaugh
Vom Netzwerk:
ebenso unbekannt wie meine leiblichen Eltern. Man hatte sich für den 1. August entschieden, damit ich irgendwann volljährig werden konnte, nicht um ihn festlich zu begehen.
    Ich setzte mich nach vorne neben Meredith, schloss die Tür und dachte, dass sie jetzt losfahren würde. Sie klopfte mit ihren Fingernägeln auf das Lenkrad. Ich schnallte mich an. Aber das Auto bewegte sich noch immer nicht von der Stelle. Ich drehte mich zu Meredith um. Da ich noch im Pyjama war, zog ich die in Flanell steckenden Knie hoch bis zum Brustbein und wickelte mir die Jacke um die Beine. Mein Blick war auf das Dach von Merediths Auto gerichtet, während ich darauf wartete, dass sie etwas sagte.
    »Nun, bist du bereit?«, fragte sie.
    Ich zuckte die Achseln.
    »Jetzt ist es so weit«, fügte sie hinzu. »Ab heute beginnt dein Leben. Von diesem Moment an kannst du niemandem mehr die Verantwortung zuschieben als dir selbst.«
    Meredith Combs, die Sozialarbeiterin, der ich die endlose Reihe von Adoptivfamilien verdankte, die mich stets wieder abgeschoben hatten, wollte mit mir über Verantwortung reden.

2.
    I ch presste die Stirn gegen die Fensterscheibe und sah zu, wie die staubigen sommerlichen Hügel vorbeiglitten. In Merediths Auto roch es nach Zigarettenrauch, und der Sicherheitsgurt wies Schimmelflecke von etwas auf, das ein anderes Kind hatte essen dürfen. Ich war neun Jahre alt und saß, im Nachthemd und mit wild zerzaustem, kurzgeschnittenem Haar, auf dem Rücksitz. Meredith hatte sich das ganz anders vorgestellt. Sie hatte mir sogar eigens für diesen Anlass ein Kleid gekauft, ein fließendes, hellblaues mit Stickereien und Spitze. Aber ich hatte mich geweigert, es anzuziehen.
    Meredith starrte geradeaus auf die Straße. Deshalb sah sie nicht, wie ich meinen Sicherheitsgurt öffnete, das Fenster aufmachte und den Kopf hinausstreckte, bis sich mein Schlüsselbein an den Rand der Tür drückte. Ich hielt mein Kinn in den Wind und wartete darauf, dass sie mir befahl, mich zu setzen. Sie warf mir einen kurzen Blick zu, schwieg aber. Ihr Mund war zu einer schmalen Linie zusammengepresst, ihren Augenausdruck konnte ich wegen der Sonnenbrille nicht erkennen.
    Ich verharrte in dieser Haltung und beugte mich mit jedem Kilometer ein Stück weiter vor, bis Meredith ohne Vorwarnung einen Knopf an ihrer Tür bediente, so dass sich das Fenster ein Stück schloss. Das dicke Glas grub sich in meinen ausgestreckten Hals. Ich fuhr zurück und fiel auf den Boden. Meredith schloss das Fenster weiter, bis das Geräusch des Windes, der durch das Wageninnere brauste, von Stille abgelöst wurde. Sie drehte sich nicht um. Ich rollte mich auf dem schmutzigen Bodenbelag zusammen, kramte ein Babyfläschchen mit verdorbenem Inhalt unter dem Beifahrersitz hervor und warf es nach Meredith. Es prallte an ihrer Schulter ab und flog zu mir zurück. Eine säuerliche Pfütze ergoss sich über meine Knie. Meredith zuckte nicht mit der Wimper.
    »Möchtest du Pfirsiche?«, fragte sie.
    Beim Essen konnte ich nicht nein sagen, was Meredith sehr wohl wusste.
    »Ja.«
    »Dann setz dich wieder hin und schnall dich an. Am nächsten Obststand kaufe ich dir, was du willst.«
    Ich kletterte auf meinen Sitz und zog mir den Sicherheitsgurt über die Brust.
    Eine Viertelstunde später bog Meredith von der Schnellstraße ab. Sie kaufte mir zwei Pfirsiche und ein halbes Pfund Kirschen, die ich zählte, während ich sie verspeiste.
    »Eigentlich dürfte ich es dir nicht verraten«, begann Meredith. Sie sprach langsam, dehnte dramatisch die Silben, hielt inne und sah mich an. Ich blickte, die Wange an die Glasscheibe gelehnt, gleichmütig aus dem Fenster, ohne zu antworten. »Aber ich finde, du solltest dir darüber im Klaren sein. Das hier ist deine letzte Chance. Deine allerletzte. Victoria, hast du mich verstanden?« Ich reagierte nicht. »Wenn du zehn wirst, giltst du für die Behörden als nicht mehr vermittelbar, und nicht einmal
ich
werde mich weiter bemühen, dich bei einer Familie unterzubringen. Das heißt, eine Einrichtung nach der anderen, bis du volljährig bist, falls es diesmal nicht klappt. Versprich mir einfach, dass du dir das zu Herzen nehmen wirst.«
    Ich öffnete das Fenster und spuckte Kirschkerne in den Wind. Meredith hatte mich vor gerade einmal einer Stunde aus meinem ersten Kinderheim abgeholt. Mir schoss durch den Kopf, dass ich vielleicht absichtlich dort einquartiert worden war, um mich genau auf diesen Moment vorzubereiten. Mich traf keine Schuld
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher