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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Autoren: Steffanie Burow
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und die immer gleichen Geschichten erzählten.
    Ihre Wahl fiel auf Xinjiang, die nordwestlichste Provinz der Volksrepublik, ein Gebiet, viereinhalbmal so groß wie Deutschland, in dem keine zwanzig Millionen Menschen lebten. Etwa die Hälfte der Bevölkerung gehörte den muslimischen Minderheiten Chinas an, was für Marion den Ausschlag gegeben hatte. Sie war schon in Indonesien, Malaysia, der Türkei und Ägypten gereist, und ihrer Erfahrung nach war die Herzlichkeit und Gastfreundschaft in diesen islamischen Ländern besonders groß. Riesige Wüsten, gewaltige Gebirgszüge, Oasen und Nomaden und die versunkenen Städte aus den goldenen Zeiten der Seidenstraße übten einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. In der Provinz Xinjiang, an deren westlichen Rand Kashgar lag, gab es jede Menge Neues zu entdecken. Marion verzog das Gesicht: zum Beispiel eine Leiche.
    Der endgültige Bruch mit Thomas war unerwartet sachlich abgelaufen. Die Streitereien hatten auch ihn mürbe gemacht, und sie waren in der Lage, sich freundschaftlich zu verabschieden. Geheult hatte Marion erst, als sie auf der Fähre zum Festland saß. Drei Tage später stand sie auf dem Victoria Hill und bewunderte Hongkongs Wolkenkratzer. Nach weiteren zwei Tagen nahm sie ein Flugzeug nach Urumqi, der Hauptstadt Xinjiangs. Da ihr Urumqi nicht sonderlich gefiel, reiste sie in die Berge und von dort nach Kashgar, der uralten Seidenstraßenoase am westlichen Rand der Taklamakan-Wüste. Und hier war sie nun, gerade zehn Tage in China, und hatte bereits einen Haufen Ärger.

    ›Hi, Thomas.‹ Marion nahm die Finger von der Tastatur. So ging es nicht. Trotz der Trennung war er immer noch der Mensch, dem sie sich am nächsten fühlte. Sie löschte das erste Wort, ersetzte es durch ›Lieber‹ und begann zu schreiben.

    Eine Stunde später stand sie wieder auf der Straße. Sie schlüpfte in ihre Jacke und suchte in den Taschen nach Papiertüchern. Dabei fiel ihr ein harter Gegenstand in die Hände, den sie am liebsten vergessen hätte. Ihr Magen krampfte sich zusammen: Es war ein kleines, ramponiertes Kästchen, das dem Toten gehörte. Sie hatte es ihm aus einem ihr unerklärlichen Impuls heraus abgenommen. Welcher Teufel hatte sie letzte Nacht geritten? Das Kästchen war bestimmt für die Ermittlungen wichtig. Sie musste es dem Kommissar unbedingt bei nächster Gelegenheit geben. Aber erst würde sie erneut einen Spaziergang durch die Altstadt wagen – bei Tageslicht sollte es kein Problem sein, sich dort zurechtzufinden, und sie konnte sich unterwegs eine plausible Ausrede einfallen lassen, warum sich das Kästchen in ihrem Besitz befand.
    Nach zweihundert Metern ließ sie die rechtwinklige chinesische Welt hinter sich und bog nach links ab. Vor ihr öffnete sich eine schmale, ungepflasterte Gasse, die direkt in das Herz der zentralasiatischen Stadt führte. Erwartungsvoll betrat Marion die Gasse. Mit jedem Schritt wirbelte sie Staub auf, der sich auf die Auslagen der Gemüsehändler, die Gesichter der Kinder, auf die Esel und die vor den Läden der Schlachter hängenden gehäuteten Schafe legte. In einer zur Straße hin offenen Werkstatt drechselte ein junger Mann die Pfosten für ein Möbelstück, daneben glänzten die Waren eines Metallhandwerkers: orientalische Wasserkannen, fein ziselierte Tabletts, messingbeschlagene Mitgifttruhen. Marion hob interessiert den Deckel einer der Truhen an und ließ ihn dann bedauernd wieder fallen. Sie hätte die Truhe sehr gern gekauft und mit den wunderbaren Dingen gefüllt, die der Handwerker zusätzlich anbot. Leider war das Transportproblem unlösbar. Das Platzproblem zu Hause in Hamburg allerdings auch: Ihre Wohnung war vollgestopft mit Kunsthandwerk, das sie in aller Welt zusammengetragen hatten – Marion seufzte. Es gab keine gemeinsame Wohnung mehr, Thomas und sie hatten sich getrennt. Sie würden sie wohl oder übel auflösen müssen – offensichtlich hatte sie diese Tatsache noch nicht richtig verdaut.
    Der Handwerker hatte inzwischen von seiner Arbeit aufgesehen und beobachtete Marion in der Hoffnung auf ein Geschäft, aber sie machte eine entschuldigende Geste und ging weiter.
    An der nächsten Ecke standen zwei Männer in bodenlangen, hellgrauen Kaftanen und feilschten um den Preis eines Ballen Baumwolle. Empört registrierte Marion, dass einer der Männer eine hoch aufragende Pelzmütze trug – ein Luxus, für den irgendein armes Tier hatte sterben müssen. Doch dann sah sie genauer hin. Von Luxus
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