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Die Verbannung

Die Verbannung

Titel: Die Verbannung
Autoren: Cesare Pavese
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Meeres; und alles hatte für ihn die Schönheit eines unerforschten Landes, war wie ein Traum. Aber er sah auch die Enge der Gäßchen und der Fenster wieder vor sich, die vier Häuser unmittelbar über dem Abgrund, und er schämte sich seiner Mißgunst.
    Auch Pierino, der Zöllner, hatte ihm gesagt, er habe das Vertrauen des Wachtmeisters, der sich sogar frage, ob er nicht eher töricht als schuldig sei; und Stefano begann damit, geduckt die Hügelstraße unter den Olivenbäumen hinaufzuwandern in der Hoffnung, daß er von dort oben zu sehen sei. Von dem Anarchisten hatte er durch ein Weiblein gehört, das zum Einkaufen in Gaetanos Laden heruntergekommen war: er spielte mit den Kindern auf dem Kirchplatz, schlief in einem Heuschober und verbrachte den Abend mit Diskussionen in den Ställen. Stefano hätte sich lieber nicht mit ihm getroffen – mittlerweile hatte er seine bestimmten Gewohnheiten, und die Überzeugungen dieses Menschen und sein Bart würden ihn durcheinanderbringen –, aber er wollte ihm die Gewißheit geben, nicht verlassen zu sein.
    Er wanderte deshalb gegen Abend die Hügelstraße hinauf, setzte sich auf einen Baumstumpf, der neben dem Straßenwärterhaus in ein laichen schaute und rauchte seine Pfeife, wie Giannino es getan hätte. Einmal hatte er sich im Sommer auf eben diesen Baumstumpf gesetzt, als er Schrittegetrappel vernahm und eine Gruppe magerer Männer – Bauern und Tagelöhner – vorbeizog, an ihrer Spitze ein Priester in Stola. Vier junge Leute mit hochgekrempelten Ärmeln trugen eine Bahre auf ihren braunen Schultern und trockneten sich mit ihrem freien Arm von Zeit zu Zeit die Stirn. Niemand sprach; sie gingen nicht im Takt und wirbelten dicken rötlichen Staub auf. Stefano hatte sich von seinem Baumstumpf erhoben, um den unbekannten Toten zu ehren, und viele Köpfe hatten sich umgewandt, um ihn anzuschauen. Stefano erinnerte sich daran, daß er gemeint hatte, sein ganzes Leben lang werde er das Getrappel dieser Leute in der reglosen Kühle des staubigen Sonnenuntergangs hören. Und doch hatte er es schon vergessen.
    Wie of hatte Stefano, vor allem in der ersten Zeit, eine Szene, eine Geste, eine Landschaf in sich aufgenommen und sich dabei gesagt: »Das wird nun meine lebhafeste Erinnerung an die Vergangenheit sein; am letzten Tag werde ich daran zurückdenken als an das Symbol dieses ganzen Lebens; und dann wird sie mir Freude machen.« So hielt man es im Gefängnis, wenn man sich einen bestimmten Tag, einen bestimmten Augenblick aussuchte und sich sagte: »Diesem Augenblick muß ich mich ganz hingeben, ihn bis zur Neige auskosten, ihn muß ich, ohne mich zu rühren, in seinem Schweigen an mir vorüberziehen lassen, denn dieser Augenblick wird mein ganzes Leben lang das Gefängnis bedeuten und, wenn ich erst wieder frei bin, werde ich ihn in mir selbst wiederfinden.« Aber diese Augenblicke schwanden dahin, so wie man sie sich ausgesucht hatte.
    Der Anarchist, der beständig an einem Fenster lebte, mußte viele solcher Augenblicke kennen, falls er nicht an ganz andere Dinge dachte und Gefangenschaf und Verbannung für ihn nicht Lebensbedingungen wie die Luf darstellten. Wenn er an ihn dachte und an das Gefängnis, in dem er gewesen war, hatte Stefano das Gefühl, er müsse einer anderen Rasse angehören, von einer unmenschlichen Art sein, die in Zellen aufgewachsen war wie ein unterirdisches Volk. Und doch war dieses Wesen, das auf der Piazza mit den Kindern spielte, alles in allem argloser und menschlicher als er. Stefano wußte, daß seine unentwegte Angst und Spannung von der Vorläufigkeit seines Daseins herrührte, von seiner Abhängigkeit von einem Blatt Papier, davon, daß sein Koffer ständig geöffnet auf dem Tisch stand. Wieviele Jahre würde er hier unten bleiben? Wenn man ihm gesagt hätte, lebenslänglich, hätte er vielleicht ruhiger dahinleben können.
    An einem Januarmorgen, als die Sonne durch die
    Wolken stach, fuhr ein mit Koffern beladenes Auto rasch, ohne sein Tempo zu verringern, die Hauptstraße hinunter. Stefano hob kaum die Augen danach und erlebte einen anderen vergessenen Augenblick aus dem Sommer wieder.
    In der glühenden Mittagssonne hatte ein Auto vor dem Wirtshaus gehalten. Schön, stromlinienförmig und staubig, von heller Kremfarbe und fügsam, fast menschlich in seinem Betragen war es an den schattenlosen Bürgersteig herangefahren; und eine schlanke Frau in grüner Jacke und mit dunkler Brille war ausgestiegen, eine Ausländerin. Stefano
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