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Die Verbannung

Titel: Die Verbannung
Autoren: Julianne Lee
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Scheide, die er unter seiner rechten Gamasche befestigt hatte. Diesen Dolch hatte er nach einer heidnischen Göttin und späteren katholischen Heiligen Bri-gid getauft; damals, als er ihn vor Jahren im Feuer geweiht hatte. Er warf die Waffe in die Luft und fing sie am Heft wieder auf, bevor er mit ein paar leichten Aufwärm- und Dehnübungen begann. Sowie sich seine Muskeln gelockert hatten, ging er zu seinem üblichen Kung-Fu-Trainingsprogramm über. Er wirbelte Brigid durch die Luft und führte machtvolle Hiebe gegen einen unsichtbaren Gegner, bis er trotz der Kälte in Schweiß gebadet war. Nach wochenlanger erzwungener Untätigkeit tat ihm die körperliche Anstrengung gut.
    Aber es fiel ihm schwer, sich auf seine Übungen zu konzentrieren, seine Gedanken schweiften immer wieder zu Cait ab. Unwillig schüttelte er den Kopf und zwinkerte ein paar Mal, fest entschlossen, nur noch an die altvertrauten Bewegungsabläufe zu denken. Allmählich fiel die Anspannung von ihm ab, und sein Kopf wurde wieder klar.
    Fast sein ganzes Leben lang hatte er sich schon für asiatische Kampfsportarten und die Fechtkunst interessiert, weswegen er in seiner Heimat auch als Kung-Fu- und Fechtlehrer tätig gewesen war. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte er mit Fug und Recht von sich behaupten dürfen, sich mit den besten Schwertkämpfern der Welt messen zu können, doch seine Verwundung und die anschließende Operation hatten an seinen Kräften gezehrt. Zudem war das Schottland des 18. Jahrhunderts nicht unbedingt der Ort, wo ein Mann sich in Ruhe erholen konnte. Also übte er weiter, während sein leerer Magen knurrte und die kalte Novemberluft sich durch den dünnen Stoff seines Hemdes fraß, bis seine Muskeln schmerzten und ihm der Schweiß in Strömen über das frisch rasierte Kinn rann. Als er sein Programm absolviert hatte, bestieg er sein Pferd und setzte seinen Weg fort. Dabei presste er geistesabwesend eine Hand gegen seine verletzte Seite, als wolle er verhindern, dass die Eingeweide herausquollen - so wie er es auch an dem Tag getan hatte, als er verwundet worden war.
    Wenig später an diesem Morgen hielten er und Sinann am Rand des Waldes an. Von hier aus konnten sie Edinburgh bereits sehen. In der Ferne, hinter offenem, gewelltem Gelände zeichneten sich die Umrisse der auf einem mächtigen Vulkanfelsen erbauten Festung ab. Am Hang des Felsens lag eine Ansammlung kleinerer, eng zusammengedrängter Gebäude. Dylan fluchte leise. Es gab keine Möglichkeit, sich der Stadt unbemerkt zu nähern.
    »Zeig mir eine Stadt oder ein Dorf in diesem Königreich, auf das man am helllichten Tag einfach zureiten kann, ohne aufzufallen.« Sinanns Stimme verriet keinerlei Mitgefühl für seine missliche Lage. »Du musst zusehen, dass du dieses Pferd loswirst.«
    »Ich denke, ich werde mein Glück einfach herausfordern.« Dylan trieb das Pferd vorwärts. Vereinzelte dicke Schneeflocken schwebten träge vom Himmel herab. Zwar blieben sie noch nicht liegen, aber sie kündigten weitere, heftigere Schneefälle an.
    Sinann murmelte etwas auf Gälisch, das er nicht verstand, und verbarg ihr Gesicht an seinem Rücken.
    Dylan ritt so gemächlich auf die Stadt zu, als kümmere es ihn nicht im Geringsten, ob ihn jemand sah. Die Straße war ziemlich belebt, und ihm fielen mehrere Menschen auf, die sein Pferd mit dem kostspieligen Zaumzeug neugierig musterten. Als er die Stadt fast erreicht hatte und die eindrucksvolle Festung deutlich sehen konnte, kam er an ein paar strohgedeckten Steinhäusern am Wegesrand vorbei. Sinann drängte ihn, das Pferd dort zum Kauf anzubieten, doch er gab ihr keine Antwort, damit niemand auf die Idee käme, er würde Selbstgespräche führen, und ritt unbeirrt weiter.
    Am späten Vormittag gelangte er auf die Straße, die zur Südseite der Festung hinaufführte. Die steinernen Gebäude schienen wie Stalagmiten aus dem Felsen herauszuwachsen. Ehrfurcht erfüllte ihn, als er über den Grassmarket ritt. In dieser Stadt hatte einst Robert the Bruce gelebt; hier waren die beiden Könige James VI. und James I. geboren worden. Ein beträchtlicher Teil der schottischen Geschichte hatte sich innerhalb dieser Mauern abgespielt. Langsam ritt er um den Felsen herum zu dem Fallgitter an der nordöstlichen Seite, das von einer Reihe großer Kanonen bewacht wurde. Irgendetwas störte ihn an diesem Bild, es erschien ihm seltsam unvollständig. Er hatte Fotos von der Festung gesehen und hätte schwören können, dass sie von dieser Seite
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