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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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Wahlen, ein Mehrparteiensystem, eine freie Presse gefordert. Sie wollten, dass Ungarn vom Warschauer Pakt abrückte, und mehr als alles andere wollten sie, dass die Rote Armee nach Hause ging. Sie wollten wieder Ungarn sein, selbst nach dem, was es während des Kriegs bedeutet hatte, Ungar zu sein. Zuerst hatte Chruschtschow tatsächlich Zugeständnisse gemacht. Er hatte Nagy als Premier anerkannt und damit begonnen, die Besatzungstruppen nach Russland zurückzurufen. Eine Weile sah es Ende Oktober so aus, als würde die ungarische Revolution der schnellste, sauberste und erfolgreichste Umsturz werden, den Europa je erlebt hatte. Dann kam Polaner eines Nachmittags mit einem Gerücht heim, an der rumänischen und ukrainischen Grenze sammelten sich sowjetische Panzer. Im Café im Erzsébetváros, das Andras und Polaner besuchten, um jüdische Künstler und Schriftsteller bis tief in die Nacht diskutieren zu hören, wurde an jenem Abend am heftigsten darüber gestritten, ob die westlichen Länder Ungarn zu Hilfe eilen würden. Radio Freies Europa hatte in vielen diese Hoffnung geweckt, andere waren jedoch der Ansicht, dass keine westliche Nation für einen Ostblockstaat etwas riskieren würde. Die Zyniker sollten recht behalten. Frankreich und Großbritannien waren mit der Suezkrise beschäftigt und warfen kaum einen Blick nach Mitteleuropa; Amerika war in eine Präsidentenwahl vertieft und kümmerte sich um nichts anderes.
    Über zweitausendfünfhundert Menschen wurden getötet und neunzehntausend verletzt, als Chruschtschows Panzer und Flugzeuge den Aufstand zerschlugen. Imre Nagy hatte sich in der jugoslawischen Botschaft versteckt und wurde verhaftet, sobald er herauskam. Schon nach wenigen Tagen waren die Gefechte vorbei. In den darauffolgenden Wochen flohen fast zweihunderttausend Menschen in den Westen – unter ihnen Polaner. Sein Bild war in einer der vielen Zeitungen erschienen, die in der Phase von Ungarns zweiwöchiger Freiheit entstanden waren. Er war dabei fotografiert worden, wie er sich um eine junge Frau kümmerte, der man am Heldenplatz ins Bein geschossen hatte; es stellte sich heraus, dass die Frau eine Studentenführerin war, was Polaner sofort zum Revolutionär machte. Grausige Foltergeschichten drangen aus dem Hauptquartier der Geheimpolizei auf der Andrássy út 60; anstatt sie auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen, hatte Polaner beschlossen, die Grenzüberquerung zu wagen. Zu seinem Glück und dem von zweihunderttausend Flüchtlingen hatte die kurze Auseinandersetzung den Eisernen Vorhang völlig durchlöchert: Viele Grenzwachen waren in Städte oder Dörfer im Inneren abgezogen worden, um dort kleinere Aufstände zu bekämpfen.
    Auch diese Revolten waren mittlerweile niedergeschlagen worden, doch die Grenze blieb durchlässiger, als sie seit Jahren gewesen war. So wurde beschlossen, dass der Rest der Familie Polaner folgen sollte. Wie lange warteten sie jetzt schon auf eine Fluchtmöglichkeit? In Ungarn hatten sie keine Zukunft; das hatten sie schon vor der Revolution gewusst, jetzt war es nur noch offensichtlicher. József Hász, der fünf Jahre zuvor nach New York geflüchtet war, hatte sich große Mühe gegeben, sie zu überzeugen, dass es närrisch wäre zu bleiben. Er hatte ihnen eine Wohnung besorgt und versprochen, ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen. Tamás und Április waren alt genug, um zu Fuß über die Grenze zu gehen; Weihnachten würde ihnen die Gelegenheit bieten. So entschlossen sie sich letztlich, das Risiko auf sich zu nehmen. In sorgfältig kodierten Formulierungen hatten sie diese Nachricht József, Elisabet und Paul zukommen lassen. Und jetzt begann Elisabet auf der anderen Seite des Atlantiks, das Apartment vorzubereiten, die Räume einzurichten und alles, was sie brauchen würden, einzulagern. Andras hatte sich verboten, über die Wohnung nachzudenken; er hatte das Gefühl, allzu genaue Vorstellungen ihres künftigen Lebens würden das Schicksal herausfordern. Dennoch erzählten Klara und er den Kindern von der Junior Highschool und der Highschool, die sie besuchen würden, von den Filmpalästen mit ihren neonbeleuchteten rosa Türmen, von Lebensmittelgeschäften mit den Bergen von Obst aus aller Welt. Seit Jahren schrieb Elisabet ihnen von diesen Dingen; mittlerweile waren sie zu Bildern aus einem Märchen geworden.
    Noch unbegreiflicher war für Andras die Aussicht, wieder selbst zur Schule zu gehen, seinen Abschluss in Architektur zu machen. Polaner und er hatten
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