Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
er.
    »Von wem beauftragt?«, fragte Andras. Mit dumpfer Leidenschaftslosigkeit stellte er fest, wie sonderbar es war, den Namen seines Bruders aus dem Mund dieses Soldaten zu hören. Tibor Lévi . Als ob er noch leben würde.
    »Von Mátyás Lévi«, sagte der Mann. »Ich war mit ihm in einem Kriegsgefangenenlager in Sibirien.«
    Aha, dachte Andras. Nun diese endgültige Nachricht. Mátyás tot, und dies sein letztes Lebenszeichen. Andras fühlte sich wie an einem Ort, der so weitab von jedem menschlichen Empfinden war, so weit entfernt von der Fähigkeit, Schmerz, Hoffnung oder Liebe zu spüren, dass er nicht zögerte, den Brief entgegenzunehmen. Er öffnete ihn, während der junge Mann ihm zusah und seine Familie ihn in Erwartung der Nachricht anschaute. Und so erfuhr er, dass sein Bruder Mátyás lebte und am folgenden Dienstag nach Hause kommen würde.
    Im Winter 1942, nur einen Monat, nachdem Mátyás Lévi nach Russland geschickt worden war, hatten die Sowjets ihn gefangen genommen und zusammen mit dem Rest seiner Arbeitskompanie in ein Minenlager nach Sibirien geschickt. Das Lager befand sich in der Region des Flusses Kolyma, begrenzt vom Arktischen Ozean im Norden und dem Ochotskischen Meer im Süden. Sie waren mit der Transsibirischen Eisenbahn bis an ihren östlichsten Punkt nach Wladiwostok gefahren und dann in dem Gefangenenschiff Dekabrist über das Meer gebracht worden. Das Lager hatte zweitausend Insassen: Deutsche und Ukrainer, Ungarn und Serben, Polen und französische Nazi-Kollaborateure, dazu sowjetische Krimininelle, politische Dissidenten, Schriftsteller, Komponisten und Künstler. In diesem Lager war Mátyás mit Knüppeln, Schaufeln und Hacken geschlagen worden. Er war von Wanzen, Fliegen und Läusen gebissen worden. Beinahe wäre er erfroren. Er hatte täglich zwanzig Stunden bei zwanzig Grad minus gearbeitet, eine Tagesration von zwanzig Dekagramm Brot erhalten, wegen Ungehorsams in Isolationshaft gesessen, war fast an der Ruhr gestorben, hatte sich die Anerkennung der Wachleute und Offiziere verdient, als er kühne kommunistische Plakate für die Barackenwände malte, war zum offiziellen Propagandaplakatmaler und offiziellen Schneebildhauer des Lagers ernannt worden (er hatte drei Meter hohe Büsten von Lenin und Stalin erschaffen, die den Paradeplatz beherrschten), er hatte Russisch gelernt und sich als Übersetzer gemeldet, man hatte sich an ihn gewandt, um ungarische Nazis zu vernehmen, er hatte gesehen, wie hundert Pfeilkreuzlern der Prozess gemacht wurde, wie sie verurteilt und in manchen Fällen exekutiert wurden, er war von einer Untergrundorganisation ungarischer Pfeilkreuzler überfallen worden, die ihm beide Beine brach, hatte sechs Monate im Krankenrevier gelegen und war schließlich eines Morgens davon unterrichtet worden, dass seine Zeit im Gefangenenlager vorbei sei, und als er fragte, wem er das Privileg der Entlassung zu verdanken habe, wurde ihm gesagt, dass seine offizielle Bezeichnung und die von fünfhundertzwanzig weiteren Gefangenen von »jüdischer Ungar« zu »ungarischer Jude« geändert worden sei und dass das Gefangenenlager nicht dafür gedacht sei, Juden festzuhalten, nicht nach dem, was die Nazis ihnen angetan hatten.
    Doch nichts, das ihm in diesen drei eisigen Jahren zugestoßen war, hatte ihn auf das vorbereitet, was ihn zu Hause erwartete. Nichts hatte ihn auf die Nachricht vorbereitet, dass über vierhunderttausend ungarische Juden in Todeslager nach Polen geschickt worden waren; nichts hatte ihn auf die zerbombte Ruine Budapests mit ihren sechs zerstörten Brücken vorbereitet. Und nichts hatte ihn auf die Nachricht vorbereitet, dass seine Mutter und sein Vater, sein Bruder und seine Schwägerin und sein Neffe, dass sie alle von der Erdoberfläche verschwunden waren. Es war Andras, der ihm diese Nachricht überbrachte. Mátyás, der zu einem schlanken Mann mit harten Augen und einem kurzen dunklen Bart herangewachsen war, saß vor ihm auf dem Sofa und nahm sie lautlos auf; das einzige Anzeichen dafür, dass er den Inhalt überhaupt begriffen hatte, war ein schwaches Zittern seines Kiefers. Er stand auf und glättete seine Hosenbeine, als habe er eine militärische Anweisung erhalten und sei nun bereit, einen Befehl umzusetzen und zur Tat zu schreiten. Dann änderte sich etwas unter seiner Gesichtshaut, als hätten seine Muskeln die Nachricht per Fernleitung empfangen. Er sackte auf die Knie, seine Gesichtszüge verzerrten sich vor Schmerz. »Das ist nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher