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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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ihr Atem in den vertrauten Schlafrhythmus überging. Er sah Tibor in jenen letzten Wochen vor sich, in diesem albtraumhaften Leben in Sopron: Tibor, der ins Dorf ging, um Essen aufzutreiben. Tibor, der Andras’ und Józsefs Bohnenschüssel umkippte. Tibor, der Andras’ Stirn mit einem kalten Tuch abtupfte. Tibor, der ihn mit seinem eigenen Mantel zudeckte. Tibor, der zwanzig Kilometer mit einer Handvoll Erdbeermarmelade ging. Tibor, der ihn an Tamás’ Geburtstag erinnerte. Dann der Gedanke an Tibor in Budapest, an seine dunklen Augen hinter den silbergerahmten Gläsern. Tibor in Paris, der bei Andras’ auf dem Boden lag und wegen Ilana Liebesqualen litt. Tibor, der in einem anderen Leben Andras’ Taschen an einem Septembermorgen zum Keleti-Bahnhof getragen hatte. Tibor in der Oper am Abend vor Andras’ Abreise. Tibor, der eine zweite Matratze die Treppe hoch in sein kleines Zimmer auf der Hársfa utca schleppte. Tibor auf dem Gimnázium, ein Biologiebuch aufgeschlagen vor sich auf dem Tisch. Tibor als groß gewachsener Junge, der Andras durch den Obstgarten jagte und zu Boden warf. Tibor, der Andras aus dem Mühlteich zog. Tibor, der sich über Andras auf dem Küchenboden beugte und ihm einen Löffel süßer Milch in den Mund schob.
    Andras drehte sich um und zog Klara an sich, er weinte und weinte in den feuchten Nebel ihres Haares.
    Es gab eine Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof außerhalb der Stadt, eine Umbettung von Tibors Gebeinen und denen von Hunderten anderer Toter, ein Feld offener Gräber und eintausend Trauernde. Anschließend saß Andras zum zweiten Mal in diesem Jahr eine Woche Schiwa. Klara und er entzündeten eine Gedächtniskerze und aßen hart gekochte Eier, saßen schweigend auf dem Boden und empfingen einen Strom von Gästen. Andras hielt sich an die Tradition und rasierte sich dreißig Tage lang nicht. Er versteckte sich hinter seinem Bart, vergaß, die Kleidung zu wechseln, badete nur, wenn Klara darauf bestand. Er musste arbeiten; er wusste, dass er es sich nicht leisten konnte, seine neue Arbeit als Abwracker zerbombter Gebäude zu verlieren. Doch er verrichtete seine Aufgaben, ohne mit den anderen Männern zu sprechen oder die Häuser näher anzusehen, die er auseinandernahm. Oder an die Menschen zu denken, die in ihnen gelebt hatten. Nach der Arbeit saß er im Vorderzimmer der Wohnung, die sie auf der Pozsonyi út gemietet hatten, oder in einer dunklen Ecke des Schlafzimmers, manchmal hielt er eines der Kinder auf dem Schoß, strich dem Säugling übers Haar oder hörte sich an, was Tamás am Morgen im Park erlebt hatte. Er aß nur wenig, konnte sich weder auf ein Buch noch auf die Zeitung konzentrieren, wollte nicht mit József und Polaner spazieren gehen. Jeden Tag sprach er das Kaddisch. Er hatte das Gefühl, als könnte er für alle Zeit so leben, als könnte es ewig so weitergehen. Klara, deren Muttersein sie davor bewahrt hatte, in einer alles verzehrenden Trauer um ihre eigene Mutter, György und Elza zu versinken, verstand ihn und ging auf ihn ein; und Polaner, dessen Trauer genauso tief gewesen war wie die von Andras, wusste, dass selbst dieser Abgrund seinen tiefsten Punkt hatte und Andras ihn bald erreichen würde.
    Er hätte das Wie und Wann nicht vorausahnen können. Es geschah an einem Sonntag, genau einen Monat nach der Beerdigung, an dem Tag, als Andras seinen Trauerbart abrasierte. Sie saßen am Frühstückstisch, aßen Gerstenbrei mit Ziegenmilch; Lebensmittel waren immer noch knapp, und als das Wetter kälter wurde, fragten sie sich langsam, ob sie zwar den Krieg selbst überlebt hätten, aber an seinen Folgen sterben würden. Klara löffelte ihren eigenen Brei den Kindern in den Mund. Andras, der nichts herunterbekam, reichte seinen Teller an seine Frau weiter. József und Polaner saßen da, die Zeitung zwischen sich ausgebreitet, Polaner las etwas über die Schwierigkeiten der kommunistischen Partei vor, bis zu den bevorstehenden allgemeinen Wahlen ausreichend Mitglieder zu rekrutieren.
    Es war Andras, der sich erhob, als es an der Tür klopfte. Er durchquerte das Zimmer, zog seinen Morgenmantel gegen die Kühle enger um sich, entriegelte das Schloss und öffnete. Ein rotgesichtiger junger Mann stand auf der Schwelle, einen Rucksack auf dem Rücken. An seiner Mütze prangten die Abzeichen des sowjetischen Militärs. Er griff in die Hosentasche und zog einen Brief hervor.
    »Ich bin beauftragt worden, das hier an Andras oder Tibor Lévi auszuhändigen«, sagte
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