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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten
Autoren: Thomas Pregel
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einer Bürste erfahren hat – kurz: der Tod auf Urlaub. Über mich selbst erschreckend, reiße ich die Augen auf, dann schaue ich weg und gebe nur ein tiefes, grummeliges Brummen zur Antwort.
    »Junger Mann, alles in Ordnung?«, versucht die Alte es noch einmal, woraufhin ich mich in meinem Sitz zu verkriechen suche. Ich gehe auf Tauchstation und wünsche mir, unsichtbar zu sein. Muss sie mich denn so öffentlich bloßstellen? Was hab ich ihr denn getan?
    »Gut«, höre ich die Frau noch sagen und bilde mir ein, einen beleidigten Unterton herauszuhören, dann lässt sie mich endlich in Ruhe. Wenn immer aber jetzt jemand an mir vorbeigeht, um zur Toilette zu gehen, ins Bordrestaurant oder um einfach nur so einen Spaziergang zu machen, kommt es mir so vor, als würden sie mich jetzt erst recht anstarren wie einen von einer schweren Krankheit gezeichneten Penner, der es nicht mehr lange macht. Sie tun so, als würden sie wegschauen, aus dem Augenwinkel aber beobachten sie mich, schätzen sie ab, ob ich nicht vielleicht sogar ansteckend bin, per Tröpfcheninfektion etwa. Und das bin ich vielleicht ja auch wirklich, nur eben nicht auf so billige Art und Weise. Wieder denke ich an Föhr als Quarantänestation, nur dieses Mal finde ich es überhaupt nicht mehr komisch.
    Kurz darauf in Hamburg sehe ich zu, dass ich als Erster aus dem Zug komme.

KAPITEL 2
    Leider stellt sich heraus, dass in der Hansestadt auch mal wieder nichts besser ist als in Berlin. Mein Anschlusszug nach Dagebüll Mole ist vor zwanzig Minuten abgefahren, unsere Verspätung ist zu groß gewesen, er hat nicht mehr warten können, der nächste fährt erst in gut anderthalb Stunden. Man hat mich ausgebremst. Eben war ich immerhin noch mit einiger, wenn auch nicht ausreichender, Geschwindigkeit unterwegs, jetzt klebe ich wie ein dummer Vogel an einer Fensterscheibe. Ich weiß nicht, womit ich diese lange Wartezeit füllen soll. Auf eine solche Verzögerung bin ich nicht vorbereitet. So ist das alles nicht geplant – wenn ich denn überhaupt irgendetwas von dem hier geplant hätte. Womit soll ich alle diese unzähligen Minuten füllen, die sich plötzlich wie ein Abgrund vor meinen Füßen auftun? Schon habe ich das Gefühl hineinzustürzen, über den Rand der Verzweiflung hinaus zu sein. Aber auch darin liegt keine Erleichterung, zu fallen, zu stürzen oder ganz bewusst zu springen, hieße nur, endgültig aufzugeben und unter die Räder zu geraten, zermalmt zu werden wie ein wertloses Nichts.
    Ich will nicht neunzig Minuten lang wie bekloppt über die Bahnsteige laufen oder in den Läden in der Wandelhalle herumstöbern. Mich einfach auf eine Bank setzen und warten, geht gar nicht, nicht mit dieser quälenden Unruhe in mir. Ich komme mir ohnehin schon vor wie der allerletzte Dreck, so verwahrlost, wie ich aussehe, wenn ich mich da auch noch auf eine öffentliche Bank setzen würde, käme ich mir endgültig wie ein Tippelbruder vor, wenn auch wie einer, der gerade erst auf der Straße gelandet ist. Wenn ich mich auf so eine Bank setzte, ich würde sofort in mir zusammenfallen und niemals wieder aufstehen können, ein depressiver Nachwuchsobdachloser, dem mit seinem Stolz auch das Rückgrat gebrochen ist, unfähig, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, bis der Sicherheitsdienst der Bahn kommt, ihn aufgreift und des Bahnhofs verweist. Setze ich mich hin, bin ich wieder nur für jeden ersichtlich das armselige Häuflein Elend, das schon die Alte im Zug in mir erkannt hat, um das alle einen Bogen machen und das schließlich mit einem Besen achtlos vor die Tür gekehrt wird.
    Ich brauche Bewegung. Wenn ich in Bewegung bin, dann kann mir keiner was. Deshalb stehe ich ständig unter Strom, bin ich ständig auf Achse und draußen unterwegs, immerzu bereit, neue Bekanntschaften zu schließen, und währen diese auch nur ein paar intensive Augenblicke. Deshalb bin ich schon als Kind kaum jemals zu bändigen gewesen, einer, der laut in allen Zimmern gleichzeitig spielte, sehr fantasievoll und für meine Geschwister durchaus reizvoll genug, um an seinem Spiel teilzunehmen, der aber auch lieber allein spielte, wenn sie sich nicht voll und ganz meinem Willen unterwarfen und taten, was ich ihnen befahl. Ich war ein übler, kleiner Diktator, der lieber Tränen und Ärger in Kauf nahm, als teilen zu müssen, als das nicht zu bekommen, was mir meiner Meinung nach zur Gänze zustand.
    Eines verregneten Nachmittages in von Anfang bis Ende verregneten Sommerferien, es müssen
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