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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Autoren: Aurélien Molas
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Wand ab, wegen der Tränen sah sie alles nur noch ganz verschwommen. Der Raum vor ihr schien sich zu strecken, als hätte sich der Fluchtpunkt jäh in die Tiefe verschoben. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Gestalt sie gleich einholen würde.
    »Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen!«
    Megan wandte sich ungläubig zu dem Mann um, der sein Gewehr auf sie gerichtet hatte.
    »Sind … sind Sie von der Polizei?«
    »Lassen Sie die Waffe fallen!«
    Die Pistole fiel scheppernd auf den Linoleumboden. Sie brach in den Armen des Polizisten zusammen, und ihre Tränen benetzten die kugelsichere Weste.
    »O mein Gott … danke … danke … «

159
    Benjamin spürte, wie sich eine eisige Kälte allmählich in seinen Beinen und Armen ausbreitete, während seine Brust und sein Gesicht vor Hitze derart glühten, dass er sich ins Sprechzimmer der Krankenstation in Damasak zurückversetzt fühlte.
    Er lehnte mit dem Rücken an der Wand gegenüber dem Aufzug und hörte die Worte und die Geräusche um sich herum nicht mehr. Die Kugel in seinem Bauch brachte ihn schneller um, als er gedacht hätte. Weniger als drei Meter von ihm entfernt lag ein Polizist, dem der Schrot das Gesicht weggerissen hatte. Wenn sich der Tod näherte, das wurde ihm schmerzlich bewusst, sah man nicht sein Leben noch einmal vor dem inneren Auge vorüberziehen. Höchstens nahmen gewisse Erinnerungen, die stärker waren als andere, Gestalt an.
    Das bisschen Energie, das ihm noch blieb, zusammennehmend, versuchte er jene Momente und Stunden der Muße, die der Jugend eigen sind, in denen sich die Zeit zu dehnen scheint und das Leben ein einziges Versprechen ist, wiederaufleben zu lassen. Ein sehr schönes Versprechen.
    Benjamin unterdrückte ein Stöhnen. Seine Nägel bohrten sich in seine Haut. Er atmete schwer, die Kälte breitete sich langsam in seiner Brust aus. Er wandte ein wenig den Kopf und sah einen Polizisten und eine Frau auf sich zukommen. Der Mann hatte seinen Arm um die zierlichen Schultern der jungen Frau gelegt, und beide gingen gebeugt, mit kleinen, kurzen Schritten.
    Benjamin versuchte, Megan anzulächeln, als sie dicht an ihm vorüberging. Aber ihre Blicke begegneten sich nicht. Sie sah ihn nicht an. Der Blutlache auf dem Boden ausweichend, schlurfte sie an ihm vorbei. Er wollte sich aufrichten, ihr zurufen, aber seine Kräfte hatten ihn verlassen. Er konnte sich nicht mehr rühren und sah ihr ohnmächtig nach, wie sie in Richtung des Dämmerlichts entschwand, das er am Ende des Ganges wahrzunehmen glaubte. Tränen stiegen ihm in die Augen. Wieder versuchte er, ihr zuzurufen, sie bei ihrem Vornamen zu rufen, aber seine Stimme trug nicht und erstarb zwischen seinen Lippen. Tränen liefen ihm über die Wangen und den Hals hinunter, doch er bemerkte nicht, dass er weinte. Es gelang ihm, seine Hand in die Tasche seiner Hose zu stecken und das hölzerne Jo-Jo herauszunehmen, das er wieder zusammengeklebt hatte.
    Megan drehte sich nicht um, als er das Spielzeug mit einem leichten Schwung aus der Hand fallen ließ. Das Jo-Jo rollte, wackelte und fiel um.
    Benjamin lächelte. Er schloss die Augen, und das letzte Bild, das er sah, bevor er starb, war das einer jungen Krankenschwester, die auf seine Annäherungsversuche antwortete: »Warum nicht?«

160
    Jacques stand auf der anderen Straßenseite, als die Polizisten mit den Überlebenden des Blutbads aus dem Krankenhaus herauskamen. Ärzte und Pflegekräfte stützten Patienten und halfen ihnen, über den Parkplatz zu gehen, auf dem weiße Tücher die Leichen bedeckten. Rettungswagen von anderen städtischen Kliniken fuhren bereits vor, um etwaige Verletzte zu überführen, und ihre Sirenen ertönten im Wechsel mit denen der Polizeifahrzeuge. Ärzte und Pflegepersonal erzählten den Polizisten erschüttert den Hergang der Ereignisse, während in den Seitenstraßen die ersten Übertragungswagen von Fernsehsendern auftauchten.
    Jacques hielt in der verstörten kleinen Menge, die sich am Eingang der Notaufnahme bildete, Ausschau nach dem Gesicht von Benjamin. Er erkannte Megan, die von zwei Polizisten gestützt wurde. Die junge Frau wurde zu einem etwas abseits stehenden Rettungswagen geführt, wo man sie im Heck auf die Krankentrage setzte. Er sah die vertraute Gestalt von Pater David, der in eine Decke gewickelt war. Der alte Mann sah verstört aus und wirkte so schmächtig, dass schon ein leichter Luftzug genügt hätte, ihn umzuwerfen. Er sah sich unentwegt um, als wäre er gerade aus
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