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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Sie hob den Fuß, der Kaugummi folgte, sie trat, der Kaugummi blieb kleben, sie verdrehte den Fuß, das machte das Schlimme nur noch schlimmer, sie entkam diesem Klumpen, dem Kaugummi, nicht und fing an zu weinen. Und ich sah es in aller Klarheit: Sie war ein Zeichen, ein Bild. Sie war ich. Aber mein Kaugummi war größer, es war die Welt, sie klebte sich an meine Finger, meine Füße, an meine Seele. Ich ging zu dem Mädchen, beugte mich hinab und riss die dünne, zähe Kette ab, ich befreite sie. Sie sagte nicht einmal Danke, ganz im Gegenteil, sie schubste mich weg und war offenbar der Meinung, dass ich viel ekliger war als der Kaugummi, lief zum Eingang zu den Schwimmbassins, wo sie zusammen mit ihren leicht gekleideten und ebenso verhärteten Freundinnen stehen blieb und durch den Gitterzaun auf mich zeigte. Ich brauchte einige Jahre, um diesen Kaugummi loszuwerden, und noch heute sind meine Hände nicht sauber, noch heute hänge ich fest.
    Aber lassen Sie mich jetzt zur Sache kommen! Mein Vater, Oscar Hval, war kein großer Humorist, obwohl er den bekannten Ausdruck hohl wie eine Kokosnuss erfunden hat. Das tat er auf seinem Grund und Boden mit einem Schuss in die Stirn. Ich sah es mit eigenen Augen. Mein Vater wollte mir nämlich zeigen, wie es gemacht wird. Außerdem benötigte er einen Handlanger. Er war bis zum letzten Moment ein Vorbild, ein wahrer Lehrmeister, und ich bin immer noch gelehrig. Übrigens begann mein Vater mit zwei leeren Händen, wie man so sagt, das heißt, ganz leer waren sie wohl nicht, und so gründete er Hvals Nadelfabrik, in der Nähnadeln, Stopfnadeln, Schneidernadeln, medizinische Nadeln, Sicherheitsnadeln hergestellt wurden, alle Sorten von Nadeln, und es wurden große Erwartungen in Hvals Nadeln gesetzt, ja, das war so sicher wie das Amen in der Kirche, denn wir waren auf dem Weg ins Jahrhundert der Manufaktur und der Mode, ein Jahrhundert, das die Nadeln nicht entbehren konnte. Aber was ich sagen will und was ich, wie ich manchmal fürchte, niemals werde sagen können, und es ist dieselbe Furcht, die ich dahingehend empfinde, dass mein vorwärtsstürmender Rückzug misslingen könnte: Ich kam am neunten September des Jahres 1900 aus meiner Mutter herausgestürmt, und vielleicht liegt ja eine gewisse Ironie darin, dass ich, der kantige Engel, das Licht der Welt zu dieser Zahl aus einem Guss erblicken sollte, doch wenn das heilige Antlitz glaubt, ich sollte bis zum Jahr 2000 aushalten, von einer runden Zahl bis zur nächsten, nur um ein Zeichen zu setzen, dann irrt sich dieses Antlitz ganz gewaltig. Denn eher bin ich es, der ihm ein Zeichen setzt, wenn ich mich ein für alle Mal von dieser Welt und dem Rest dieses Daseins abwende und ganz einfach verschwinde.
    Die Geburt fand im Rikshospital in Kristiania statt, nachmittags, mit diesen langen Schatten in den Straßen und Räumen, und sie dauerte laut der Krankenhausberichte weniger als eine halbe Minute. Mein Vater schaffte es kaum, sich im Warteraum eine Zigarre anzuzünden. Ein Sohn! Und dazu noch ein ungewöhnlich gesunder und lebendiger Sohn, wie sie dachten. Das war es jedenfalls, was der Arzt, der gute alte Doktor Lund, der anwesend war, sagte: Der Junge hat ja schon Muskeln in den Fingern, Kraft in den Schenkeln, kräftige Kiefer, und sein Zeugungswerkzeug ist ohne jeden Tadel. Vater war also äußerst zufrieden mit dem Resultat und meine Mutter ein bisschen weniger nervös. Während der gesamten Schwangerschaft war sie nämlich davon überzeugt gewesen, dass sie eine Missgeburt gebären würde, das lag an einem Traum, den sie in der zwölften Woche geträumt hatte, eine Vorwarnung, und dann bekam sie doch noch eine Missgeburt ersten Ranges, ohne es zu wissen, denn an meinen Gliedmaßen fehlte nichts, ich war nur der Zweitverrückteste.
    Der Kutscher, der immerwährende Alfred, wartete mit der Equipage in der Pilestredet, und bereits am selben Abend fuhren wir heim. Es war eine lange Reise, länger als die Geburt, und sie führte bergan. Noch bevor wir angekommen waren, war es dunkel geworden. Ich lag in eine Decke gewickelt auf dem Schoß meiner Mutter, während mein Vater an diesem Freudentag selbst die Peitsche schwingen wollte: ein Junge, ein Erbe! Ich bin überzeugt davon, dass ich noch heute den herrlich frischen Geruch von Pferdemist riechen kann. Das Pferd hieß Hammer und war mit Scheuklappen und Trense ausgerüstet, und ich habe oft gedacht, dass so etwas auch Teil meiner Kleidung sein sollte, Scheuklappen und
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