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Die Überlebenden der Kerry Dancer

Die Überlebenden der Kerry Dancer

Titel: Die Überlebenden der Kerry Dancer
Autoren: Alistair MacLean
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stand wieder auf und rannte weiter, immerzu schluchzend und zitternd in der Kühle der Nacht. Kurz vor dem Ende der Gasse löste sich eine große ausgemergelte Gestalt, ein Mann mit einem ausgefransten Strohhut auf dem Kopf, aus der Deichsel seiner Rikscha und streckte die Arme aus, um das Kind anzuhalten. Der Mann hatte nichts Böses im Sinn. Obwohl er selbst krank war – in Singapur sterben die meisten Rikschakulis spätestens nach fünf Jahren an der Schwindsucht –, vermochte er immer noch Mitleid für andere zu empfinden, besonders für kleine Kinder. Doch der kleine Junge sah nur eine hohe, drohende Gestalt, die oben aus der Dunkelheit nach ihm griff; seine Angst steigerte sich zum Entsetzen, er floh vor den ausgestreckten Händen und rannte durch das Ende der Gasse hinaus auf die menschenleere Straße und hinein in die Dunkelheit auf der anderen Seite. Der Mann unternahm keinen weiteren Versuch, wickelte sich nur fester in seine Decke und lehnte sich wieder gegen die Deichsel seiner Rikscha.
    Ganz ähnlich wie der kleine Junge weinten auch zwei der Krankenschwestern leise vor sich hin, während sie durch die Straßen irrten. Sie kamen soeben an dem einzigen noch brennenden Gebäude im Geschäftsviertel der Stadt vorbei, und sie hielten die Köpfe abgewandt von den Flammen. Doch auch so waren die breiten Backenknochen und die schräggestellten Augen in den gesenkten Gesichtern zu erkennen. Es waren Chinesinnen, Menschen also, die sich sonst nicht so leicht etwas von ihren Gefühlen anmerken lassen; doch sie waren beide noch sehr jung, und die Granate, die nicht weit vom Südende der Buket-Timor-Road ihren Rotkreuzwagen in den Straßengraben gefegt hatte, war sehr nahe neben ihren Sitzen explodiert. Es war ein schlimmer Schock gewesen, und beide waren immer noch ganz betäubt.
    Von den anderen Schwestern waren zwei Malaiinnen. Die eine war jung, genauso jung wie die beiden chinesischen Schwestern, die andere eine schon ältere Frau. Die großen, samtschwarzen Augen der Jungen waren geweitet vor Furcht, und sie sah immer wieder ängstlich hinter sich, während sie weitereilte. Das Gesicht der Älteren war maskenhaft und fast ohne jeden Ausdruck. Von Zeit zu Zeit versuchte sie, gegen die Eile zu protestieren, mit der sie vorangetrieben wurden, doch sie war außerstande, sich verständlich zu machen; auch sie war dem Luftdruck der Explosion sehr nahe gewesen, und durch den Schock war ihr Sprachzentrum blockiert, vermutlich nur vorübergehend, wenn sich das auch im Augenblick noch nicht genau sagen ließ. Ein- oder zweimal streckte sie die Hand aus, um die Schwester anzuhalten, die an der Spitze ging und das Tempo bestimmte; doch diese entfernte nur die Hand, sanft aber bestimmt, und eilte weiter.
    Diese fünfte Schwester, die an der Spitze, war groß, schlank und Mitte Zwanzig. Sie hatte, als sie durch die Explosion hinten aus dem Lastwagen geschleudert worden war, ihre Haube verloren, und das dichte, blauschwarze Haar fiel ihr immer wieder in die Augen. Von Zeit zu Zeit strich sie es mit einer ungeduldigen Bewegung zurück, und dabei konnte man sehen, daß sie weder eine Malaiin noch eine Chinesin war – nicht mit diesen auffallend blauen Augen. Vielleicht eine Eurasierin, jedenfalls aber bestimmt keine Europäerin. In dem flackernden gelben Licht war es nicht möglich, die Farbe ihrer Haut zu erkennen, die ohnehin von einer Schicht aus Schlamm und Staub bedeckt war. Doch auch unter dieser Kruste konnte man auf ihrer linken Wange etwas wie eine lange Schramme sehen.
    Sie war die Anführerin des Trupps, und sie hatte die Orientierung verloren. Sie kannte Singapur, kannte es sogar gut, doch in dem Rauch und der Dunkelheit, die alles verhüllten, war sie eine Fremde, die sich in einer unbekannten Stadt verlaufen hat. Irgendwo da unten am Hafen, so hatte man ihr gesagt, sollte eine Gruppe Soldaten sein, von denen viele dringend der Pflege bedurften – und wenn sie die nicht heute nacht bekamen, so würden sie sie höchstwahrscheinlich in einem japanischen Gefangenenlager niemals bekommen. Doch mit jeder Minute, die verstrich, sah es mehr und mehr so aus, als würden die Japaner zuerst bei ihnen anlangen. Je mehr sie kreuz und quer durch die ausgestorbenen Straßen irrten, desto hoffnungsloser verirrte sie sich. Man hatte ihr gesagt, daß sie die Gruppe wahrscheinlich irgendwo in der Kalang-Bucht finden würde, gegenüber von Cape Ru; jetzt aber gelang es ihr nicht einmal, den Weg zum Hafen zu finden, und noch
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