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Die Tulpe des Bösen

Die Tulpe des Bösen

Titel: Die Tulpe des Bösen
Autoren: Jörg Kastner
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die Öllampe, die noch immer brannte. In der Kammer war Anna jedenfalls nicht. Nackt, wie er war, ging er durch die anderen Räume. Aber auch da fand er sie nicht.
    Er ging zur Wohnungstür und stellte fest, daß sie nicht verschlossen war. Aber er wußte nicht mehr, ob er abgeschlossen hatte, als er nach dem Abendessen mit Anna nach oben gegangen war.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend, kehrte er in Annas Kammer zurück und suchte nach seinem Haustürschlüssel, der noch in seinem Wams stecken mußte – vergebens. Anna mußte ihn an sich genommen haben, eine andere Erklärung gab es nicht. Ihre Kleider aber lagen noch in derselben Unordnung auf dem Boden wie zuvor.
    Er erinnerte sich an die Männerkleider, die Anna bei ihren nächtlichen Streifzügen getragen hatte und die sich in ihrem Reisegepäck befunden hatten. Er hatte ihr geholfen, sie in dem schmalen Schrank zu verstauen, der eine Ecke der Kammer einnahm. Die Kleider fehlten, ebenso die dazugehörigen Stiefel. Und das Rapier samt Bandelier.
    Eine schreckliche Ahnung beschlich ihn, und ihm fiel wieder ein, was sie gesagt hatte, als er sie nach ihrem bekümmerten Gesichtsausdruck gefragt hatte. Plötzlich glaubte er zu wissen, wo er sie fand. Hastig, voller Sorge, zog er sich an, während in der Ferne ein Nachtwächter verkündete, daß es zweieinhalb Stunden nach Mitternacht sei.
    Bevor er die Wohnung verließ, griff er in einer bösen Vorahnung nach seinem Stockdegen. Am Fuß der Treppe angekommen, stellte er fest, daß Anna die Haustür wieder verschlossen hatte. Um die Hausbewohner vor ungebetenen nächtlichen Besuchern zu bewahren? Oder um zu verhindern, daß er ihr folgte und sie aufhielt?
    Er wollte bei seiner Wirtin klopfen, aber die war schon von seinen lauten Schritten auf der Treppe geweckt worden und öffnete zögernd die Tür.
    »Euren Hausschlüssel, schnell!« verlangte Katoen.
    Das schläfrige Gesicht unter der Nachthaube blinzelte ihn verständnislos an. »Was gibt es denn?«
    »Ich brauche Euren Hausschlüssel, beeilt Euch!«
    Endlich begriff sie und holte den Schlüssel. Er nahm ihn ihr aus der Hand und öffnete mit fliegenden Fingern die Tür.
    »Schließt hinter mir wieder ab«, trug er der Witwe Gerritsen auf. »Und achtet darauf, daß Felix nicht wieder auf den Gedanken kommt, mir zu folgen!«
    Sie wollte ihn noch etwas fragen, aber er hörte nicht mehr hin, sondern trat hinaus in die kalte Nachtluft. Seine Sorge um Anna ließ ihm alles andere unwichtig erscheinen. Mit jeder Sekunde wuchs seine Angst, sie zu verlieren – für immer. Waren die leidenschaftlichen Stunden, die sie miteinander verbracht hatten, nicht der Beginn eines neuen Lebens gewesen, sondern der Abschied davon?
    Er wandte sich nach rechts und lief zu der Brücke, die über die Binnenamstel führte, und dann weiter die Kalverstraat entlang in Richtung Dam. Dabei begegnete er niemandem außer zwei Betrunkenen, die Arm in Arm von einer Straßenseite zur anderen torkelten. Die beiden nach Anna zu fragen wäre pure Zeitverschwendung gewesen, also hielt er sich nicht weiter mit ihnen auf. Wenn er sich nicht täuschte, kannte er Annas Ziel ohnehin.
    Als er nur noch zwei, drei Minuten vom Dam entfernt war, hörte er aus einer der Seitengassen ein lautes Wimmern. Es war die Stimme einer Frau, und Katoen blieb stehen. Er war so schnell gelaufen, daß er heftig und stoßweise atmete.
    Wieder hörte er die Frauenstimme: »Nicht, bitte nicht mehr schlagen!«
    Ein lautes, kurzes Klatschen zeugte davon, daß die Bitte vergeblich gewesen war. Die schrille Stimme gehörte keinesfalls Anna, aber er ging trotzdem in die dunkle Gasse hinein, wo im Gegensatz zur Kalverstraat keine Laternen brannten. Die Frau schien wirklich Hilfe zu brauchen. Und zugleich dachte er bei jedem Schritt an Anna, deren Vorsprung ständig größer wurde.
    »Elendes Miststück!« brüllte eine rauhe Männerstimme, die ihm vertraut vorkam, auch wenn er sie nicht erkannte. »Erst führe ich dir Freier mit prall gefüllter Börse zu, und dann willst du mich um meinen Anteil prellen? Dir werd ich’s zeigen!«
    Wieder klatschte es, einmal, zweimal, dreimal. Die Frau schrie auf, und dann jammerte sie wie ein kleines Kind.
    Ein Streit zwischen Kuppler und Nachtläuferin also. Jetzt ärgerte er sich, daß er deshalb seinen Weg zum Dam unterbrochen hatte, und wollte schon umkehren. Wenn Kuppler und Dirnen sich gegenseitig das Leben schwermachten, was ging ihn das an? Er hatte für beide nichts übrig, für die Dirnen
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