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Die Trasse von A'hi-nur

Die Trasse von A'hi-nur

Titel: Die Trasse von A'hi-nur
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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gab es Arbeit für alle. Stück für Stück wurden die unsichtbaren Zeichnungen sichtbar gemacht und mit einem hochempfindlichen Film in einer Spezialkamera aufgenommen. Fünf Stunden später hatten wir eine Seitenwand des Stollens vollständig abgesucht und überall Linien gefunden, nur in der Nähe des Eingangs waren sie nicht mehr so deutlich, dort, wo sich nach und nach der Sand hineingeschoben hatte. Und nun waren wir natürlich alle gespannt, was diese Linien darstellten.
    Am anderen Tag verließen wir das Zelt überhaupt nicht. Bis gegen Mittag schliefen wir – o ja, wir waren sehr diszipliniert. Aber das Mittagessen wurde schon nur noch hinuntergeschlungen, und dann, während Inge die Bilder entwickelte, breitete sich kribbelnde Ungeduld aus. Wir bereiteten eine Folie vor, auf die wir die Bilder kleben wollten, damit wir einen Gesamteindruck bekamen.
    Eine Stunde später standen wir in wortloser Bewunderung vor diesen Bildern.
    Der Inhalt war nicht sensationell. Eine Reihe von Säern schritt auf den Betrachter zu – Männer und Frauen mit Lendenschurzen; die charakteristische Bewegung des Armes war so eindeutig dargestellt, daß jeder sofort an entsprechende Bilder von arbeitenden Bauern früherer Jahrhunderte erinnert wurde.
    Was uns Bewunderung – zunächst nur Bewunderung – abnötigte, war die Lebendigkeit der Darstellung. Obwohl hier und da ein Stück Linie fehlte, trat doch die Reihe ganz plastisch aus den Aufnahmen heraus und schritt auf uns zu, ja, man meinte direkt das Korn zu sehen, das sie säten.
    Im Hintergrund waren Berge angedeutet – mochte sein, es waren die Felsen, bei denen wir uns jetzt befanden.
    Die Gestalten und Gesichter, obwohl mit sparsamen Strichen dargestellt, waren durchaus nicht gleichförmig. Es waren individuelle Unterschiede sichtbar, und der Sämann am Stolleneingang trug sogar eine besondere Haartracht oder eine Haube oder so etwas, genau konnte man das nicht erkennen.
    Zufällig sah ich Inge an – ihr Gesicht drückte völlige Fassungslosigkeit aus. Richtig, fiel mir ein, sie malt ja ein bißchen, da sieht sie bestimmt noch mehr in den Bildern als wir. Ich fragte sie.
    »Das ist unmöglich!« antwortete Inge – oder vielmehr, sie antwortete nicht, sondern sprach etwas aus, was sie aufzuwühlen schien. »Das kann nicht sein«, sagte sie, »das ist nicht möglich, nein…«
    »Was denn?« fragte Achmed freundlich und ein wenig ironisch.
    Inge sah ihn verstört an, aber dann lachte sie. »Ja, natürlich, entschuldige. Also ich erkläre an Eides Statt: Diese Zeichnungen haben keine Urmenschen geschaffen!«
    »Du sprichst sehr entschieden«, sagte ich, ein wenig zweiflerisch. Auch Achmed fragte: »Kannst du das begründen?«
    »Ja«, sagte Inge fest. »Nicht nur die Entwicklung der Technik hat ihre Gesetze, sondern auch die Entwicklung der Kunst. Was seht ihr hier? Vergleicht die Menschen, die hier dargestellt sind – es sind Individuen. Sie führen zwar alle die gleiche Bewegung aus, aber sie tun das ganz unterschiedlich. Vergleicht mal die Armhaltung – sie ist bei jedem anders. Sogar die Gesichter, so knapp sie gezeichnet sind, drücken Verschiedenes aus. Die Individualisierung des Menschen in der Kunst kann aber erst beginnen, wenn die Arbeitsteilung eine relativ hohe Stufe erreicht hat. Vorher gibt es weder eine so ausgeprägte Individualität, daß sie nach Darstellung drängen würde, noch ein gesellschaftliches Bedürfnis dazu. Der Gegenstand der Zeichnung spricht jedoch nicht von Arbeitsteilung, sondern vom Gegenteil. Deshalb kann diese Darstellung nicht von Zeitgenossen der Säer stammen.«
    Achmed nickte, sagte aber nichts. Ich will ehrlich sagen, daß mir das zwar einleuchtete, aber daß ich doch mißtrauisch gegen die Absolutheit war, mit der Inge ihre Behauptung vorbrachte.
    Doch der nächste Tag – oder vielmehr die nächste Nacht – schien sie zu bestätigen. Die gegenüberliegende Wand stellte anscheinend die gleichen Figuren dar – aber diesmal essend, wie wir herausfanden, wiederum alle in der gleichen Haltung, mit einer Art rundem Fladen in den Händen, und wiederum mit angedeuteter Individualisierung. Die plumpe, komische Gottheit, die auf der abschließenden Stirnwand des Stollens abgebildet war, einen Stern in der Hand haltend, interessierte uns im Vergleich dazu viel weniger.
    Übrigens fanden sich auch hier im Hintergrund die Berge, außerdem aber im Mittelgrund runde, kleine Hütten, und so hatte diese Darstellung noch ein zusätzliches
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