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Die Tränen der Vila

Die Tränen der Vila

Titel: Die Tränen der Vila
Autoren: Wolfgang Jaedtke
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Stöhnend setzte ich mich auf und spürte erst jetzt den Schmerz meiner wunden Füße. Beim Gedanken an die Geschehnisse des vergangenen Tages war meine erste Regung, aufzuspringen und weiterzulaufen, doch eine tödliche Schwäche hatte mich erfasst, die mir die Beine zittern und den Kopf dröhnen ließ. Also blieb ich sitzen, lehnte den Rücken gegen einen Baumstamm und umschlang meine Knie mit den Armen. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne ließen die Baumwipfel über mir erglühen; dann kroch Dunkelheit über den Himmel, und der Mond stieg kalt schimmernd zwischen den hohen Zweigen auf. Ringsumher erwachten die Geräusche des nächtlichen Waldes: Ein Steinkauz schrie, im Unterholz raschelte ein Igel, und in der Ferne vernahm ich das unheimliche Röhren eines Hirsches.
    Konnte es eine größere Verlassenheit geben, als ich sie in jener Nacht empfand, verwaist, verirrt und verloren in der Finsternis? Ich blieb an meinem Baumstamm sitzen und lauschte dem Rauschen des Windes in den Wipfeln, während ich im Geist zu meinem Heimatdorf zurückkehrte, das nun irgendwo weit im Süden lag und eine lodernde Flammensäule zum Himmel schickte. Alles hatte ich verloren, was zuvor mein Leben ausgemacht hatte. Mein Vater lag erschlagen im nachbarlichen Garten, die zerbrochene Sense unter dem mageren Körper, der schon von Hunger und Krankheit geschwächt gewesen und von den Schlägen des Ritters gefällt worden war wie ein spröder Baum. Niemals wieder würde ich gemeinsam mit ihm auf den Feldern stehen und den Pflug ziehen, niemals wieder mit ihm am Herdfeuer sitzen, meine Breischüssel leeren und seinen Geschichten lauschen. Seine freundlichen braunen Augen hatten sich für immer geschlossen, und seine Stirn, noch am Morgen heiß vom Fieber, war nun erkaltet wie sein zerschlagener Leib.
    Im nachbarlichen Garten lagen Gundes Kinder tot am Boden, zwischen ihnen die Mutter selbst, denn gewiss hatten die Männer ihr nach vollzogener Notzucht die Kehle durchschnitten. Hartmut, ihr Ehemann, war vermutlich auf den Feldern überrascht worden und noch vor ihr gestorben. Auch alle anderen Bewohner des Dorfes waren tot, alle Nachbarn, die ich je gekannt und gegrüßt, alle Jungen, mit denen ich gespielt und gerauft hatte, und selbst Christa, die Kuh, Hilde mit ihren Ferkeln sowie alle Schweine und Hühner waren eingefangen und geschlachtet worden.
    Ich hatte keine Vorstellung davon, warum all dies geschah. Wohl erinnerte ich mich an die Worte des Verwalters, wonach ein Markgraf Albrecht dem Grafen von Blankenburg den Krieg erklärt hatte, doch verband ich mit beiden Namen gleichermaßen wenig. Nichts wusste ich damals von dem Streit um die Herzogswürde in Sachsen; von König Konrad kannte ich nicht mehr als den Namen, und vom Krieg hatte ich nur gelegentlich als von etwas gehört, das in fernen Gegenden stattfand.
    Nachdem ich ein inbrünstiges Gebet gesprochen hatte, um Gott die Seele meines armen Vaters anzuempfehlen, sann ich darüber nach, was ich tun und wohin ich gehen sollte. Nur eines erschien mir sicher, nämlich dass an eine Rückkehr nicht zu denken war. Vermutlich waren die Krieger weitergezogen, um andere Dörfer im Umkreis zu verheeren, und in meiner Heimat würde ich nichts mehr vorfinden außer brennenden Höfen und zertrampelten Äckern. Folglich schien es mir der sicherste Weg, weiter nach Norden zu fliehen – in der Hoffnung, dass ich mich schneller voranbewegte als die plündernde Feldschar in meinem Rücken.
    Wie aber sollte ich überleben, ein verwaister, halbwüchsiger Knabe mitten in der Wildnis? Sollte ich das nächste Dorf aufsuchen, mich auf die Knie werfen und den ersten Menschen, der meinen Weg kreuzte, um Nahrung und Obdach anflehen? Wahrscheinlich konnte ich von Glück reden, wenn ich mich irgendwo für ein paar Wochen als Tagelöhner verdingen konnte. Womöglich würde mir am Ende nichts anderes übrigbleiben, als mich mit Betteln durchzubringen – und bei diesem Gedanken wurde mir so elend, dass ich in Tränen ausbrach.
    Erstaunlicherweise glättete das Weinen die Wogen in meinem Innern, und als die Nacht bereits weit fortgeschritten war und fahles Licht über den östlichen Horizont kroch, schlief ich erschöpft ein.
    Als ich erwachte, war mein Kopf klarer. Es musste bereits gegen Mittag sein, denn die Sonne stand hoch am Himmel, und im Licht des Tages ereilte mich neuerlich die Furcht vor den Schrecken, denen ich entflohen war. So stand ich rasch auf, wählte diejenige Richtung, die ich nach dem
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