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Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)

Titel: Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Autoren: Jocelyne Godard
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anzusehen. Sein Blick war kalt und gefühllos. Wo war der Mann geblieben, der am Abend
zuvor den kleinen Nicolas zu ihr gebracht hatte? Und wo der Mann, der sie vor ihrer Abreise nach Florenz leidenschaftlich geküsst hatte?
    »Wir werden mehr Leute brauchen.«
    In seinen blauen Augen blitzte es kurz auf.
    »Du hast recht, wir werden zusätzliche Leute einstellen.«
    Sie trat einen Schritt zurück und musterte die Tapisserie auf dem Hochwebstuhl, an dem Philippe arbeitete. Mit einem schnellen Blick kontrollierte sie die Rückseite, die ebenfalls tadellos gewebt war. Penibel überprüfte sie, ob womöglich irgendwelche fehlerhaften Stellen ausgebessert worden waren. Aber seine Schussfäden waren einwandfrei gespannt und die Kettfäden harmonisch verwoben. Philippe wusste sehr geschickt mit dem Schiffchen umzugehen.
    »Einen ganz ähnlichen Teppich habe ich in einer Werkstatt in Brügge gesehen, aber diese Tapisserie kam aus Brüssel oder Tournai und gehörte zu einem Ensemble mit dem Titel Allegorische Darstellung der Vergänglichkeit , von denen ein Teil Die Ewigkeit heißt. Das Thema deines Teppichs ist weniger religiös, Philippe«, sagte sie zu dem jungen Weber und lächelte ihn an. »Der Gesichtsausdruck der Frau gefällt mir sehr. Es ist nicht die klassische Madonna, und doch erkennt man an ihrer offenen, frommen Art sofort, dass es sich um das Gesicht einer Heiligen handelt. Das hast du hervorragend wiedergegeben. Für wen ist dieser Teppich bestimmt?«
    »Für einen Edelmann aus der Bourgogne«, antwortete Mathias.
    »Oh, arbeiten wir jetzt auch für die Bourgogne?«
    »Wenn wir dort Aufträge bekommen, warum nicht?«
    »Du hast ja recht. Wir müssen überall neue Kunden werben. Nachdem Marguerite d’Angoulême nun eine verheiratete d’Alençon ist, kommt jetzt vielleicht bald auch die Normandie dazu.«
    Mathias warf ihr einen ernüchterten Blick zu, und sie merkte, dass sie schon wieder vom Reisen gesprochen hatte. Gott, wie dumm sie doch war! Und wie kalt und anteilnahmslos war erst er, der sich früher einmal so für alle neuen Ideen begeistert hatte!
     
    Der Tag verlief dann doch recht friedlich. Alix prüfte äußerst sorgfältig alle Arbeiten auf den Webstühlen, sah die Bestellungen durch, inventarisierte die Vorräte an Woll- und Seidenfäden und schrieb eine Einkaufsliste.
    Als sie damit einige Stunden später fertig war, begutachtete sie noch einmal die Stücke, an denen gerade gearbeitet wurde. Beim Anblick der Millefleurs auf den Flachwebstühlen kam sie zu der Überzeugung, dass sie ihre Arbeit auf der Stelle in Angriff nehmen musste. Sie würde auf die orientalische Methode zurückgreifen, die ihr Jacquou beigebracht hatte, dem wiederum Kardinal Jean de Villiers dieses kostbare Geheimnis anvertraut hatte. Sie war genau das Richtige für die Kleider ihrer Figuren zu Augustus und die Sibylle . Die Tapisserie der Renaissance verlangte nach Gold! Sie wollte diese kaum bekannte Technik anwenden, mit der eng gewebte Tapisserien wunderschön golden glänzten. Dafür nahm man einen blauen und einen gelben Wollfaden, damit es nach grün aussah, und gab dann einen gelben Seidenfaden für den Glanz dazu. Umgekehrt verwendete man blaue und gelbe Seidenfäden zusammen mit einem gelben Wollfaden. Zum Schluss machte man daraus einen Faden, wobei man darauf achten musste, die einzelnen Fäden nicht miteinander zu verdrehen, und der glänzte dann wie Goldfaden. So hatte sie auch ihr Meisterstück für die Webergilde des Nordens gewebt, das Alix bei allen, außer bei ihren erbitterten Feinden, große Bewunderung eingebracht hatte.
    Nun war alles geklärt, und sie wollte den Nachmittag mit Arnaude
verbringen. Alix setzte sich neben ihre Freundin, und gemeinsam webten sie an einer Szene aus der Jagd auf das Einhorn. Sie redeten nicht viel, weil sie ganz auf ihre Arbeit konzentriert waren. Hin und wieder warf Alix einen Blick auf Guillemin, der damals, als sie ihn zuletzt gesehen hatte, sehr gewissenhaft Woll- und Seidenfäden nach Farbe und Größe sortierte. Jetzt spannte er Kettfäden auf einen kleinen Webrahmen und machte seine ersten Versuche als Weber.
    Als es Abend wurde und sich alle nach und nach auf den Heimweg machten, stand Alix auf und ging in die andere Werkstatt, wo Mathias noch bei der Arbeit war.
    »Wann gehst du nach Hause?«, fragte sie und sah ihm über die Schulter.
    »Ich bleibe immer lange.«
    Sie lächelte ihn freundlich an. Ob er sich auf eine neue Freundschaft unter veränderten
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