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Die Totensammler

Die Totensammler

Titel: Die Totensammler
Autoren: PAUL CLEAVE
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sogar eine Kirche. Viele Gebäude in der Stadt sind fast hundert Jahre alt, einige sogar älter. Die klassische englische Architektur sieht fantastisch aus, wenn man in der richtigen Stimmung dafür ist, doch bei Temperaturen von fast vierzig Grad geht einem einfach alles auf die Nerven. Die meisten Gebäude sind im Laufe der Jahre von den Autoabgasen und vom Ruß fleckig geworden, aber es sind ohnehin nicht die Bauwerke, die Christchurchs Schönheit ausmachen, sondern seine Grünanlagen. Christchurch ist nicht zufällig als Garden City bekannt – an fast jeder Straße stehen Bäume, und der botanische Garten ist nur ein paar Blocks entfernt; er lockert das altehrwürdige Erscheinungsbild der Stadt stärker auf als die modernen Hotels und Bürogebäude. Einige Läden haben immer noch die Weihnachtsdekoration von vor ein paar Monaten im Fenster – oder sie haben sie dieses Jahr besonders früh angebracht. Es ist kurz vor zehn Uhr morgens, und die Straßen sahen noch nie so leer aus. Fast als wäre in meiner Abwesenheit der Ebola-Zirkus in der Stadt gewesen, aber natürlich ist nichts dergleichen passiert; die Leute bleiben wegen der Hitze in den Häusern. Und die Unglücklichen, die draußen unterwegs sind, bewegen sich ganz langsam, um Energie zu sparen; ihre Hemden und Blusen sind schweißnass. Alle tragen Wasserflaschen mit sich herum. Ich überquere die Brücke über den Avon River. Der Wasserpegel liegt unter dem Normalstand, und die Bäume, die das Ufer säumen, lassen die Äste hängen, als wollten sie in den Fluss springen. Im Schatten einiger Flachssträucher haben sich ein paar Enten verkrochen; eine einsame Ente treibt mit verdrehtem Kopf auf dem Rücken über das Wasser, während dunkle, fette Fliegen ihren Körper umschwirren. Ich komme an einem Geländewagen vorbei, der in zweiter Reihe neben mehreren Straßenlaternen parkt, sodass die vorbeifahrenden Autos gezwungen sind, auf die andere Spur auszuweichen. Das Fahrzeug ist mit einer Schmutzschicht überzogen, und jemand hat mit dem Finger Ich wünschte, meine Tochter wäre so dreckig auf die Heckscheibe geschrieben. Ich betrete den Busbahnhof, und die Klimaanlage haut mich fast um. Im Gebäude riecht es nach Zigarettenqualm, und die elektronische Tafel, die die Abfahrtszeiten anzeigt, wurde von einem Ziegelstein oder etwas Ähnlichem zertrümmert. Zusammen mit zehn anderen Leuten warte ich auf den nächsten Bus, einige erklären zwei verirrten Touristen den Weg. Zum ersten Mal seit ungefähr zwanzig Jahren fahre ich in meiner Heimatstadt mit dem Bus. Im hinteren Teil des Wagens drehen sich ein paar Schüler Zigaretten und unterhalten sich darüber, wie betrunken sie letztes Wochenende waren und dass sie sich dieses Wochenende wieder besaufen werden. Ihre Alkoholeskapaden sind eine Art Ehrenabzeichen für sie. Sie benutzen das Wort »Scheiße« als Substantiv, als Verb und als Adjektiv, eigentlich sagen sie nichts anderes.
    Der Busfahrer passt kaum hinters Lenkrad, und es lässt sich nicht ausmachen, wo seine Unterarme aufhören und seine Handgelenke anfangen. Sein Kopf scheint direkt auf den Schultern zu sitzen, sein Hals wird von Fettrollen verschluckt, die er sich durch zahllose Doughnuts angefressen hat. Wir fahren an einer großen Gruppe Jugendlicher mit rasierten Schädeln vorbei; alle tragen schwarze Kapuzenshirts und Jeans und wirken, als kämen sie gerade aus dem Gerichtssaal und heckten etwas aus, das sie umgehend wieder dorthin zurückbefördern wird. Während ich die Stadt betrachte, stelle ich fest, dass sie sich kaum verändert hat: ein paar neue Gebäude und neu gestaltete Kreuzungen, doch im Grunde ist alles beim Alten geblieben. Diejenigen, die sich von dieser Stadt nicht kaputtmachen lassen, machen sie kaputt. Zu Beginn meiner Haftzeit kamen mir vier Monate sehr lange vor, und im Gefängnis hatte ich das Gefühl, als würde die Zeit überhaupt nicht verstreichen, während sie draußen wie im Flug verging. Doch jetzt scheint mir, als hätte ich nichts verpasst.
    Hinter dem Bus steigen Auspuffwolken auf, und die Dreckschicht auf der Heckscheibe wird noch dicker. Alle paar Minuten fahren wir rechts ran, und die Zahl der Passagiere wird kleiner und wieder größer. Als wir die Vororte erreichen, sind außer mir und dem Fahrer nur noch zwei Personen im Bus. Eine Nonne und ein Elvis-Imitator, ausstaffiert mit einem kompletten Pailletten-Anzug im Elvis-Vegas-Style, und ich habe das Gefühl, als wäre ich das Opfer eines Streiches mit
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