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Die Totensammler

Die Totensammler

Titel: Die Totensammler
Autoren: PAUL CLEAVE
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der Ertrunkenen und der Gewalttaten im Straßenverkehr nimmt weiter zu, und jeden Tag verdunkelt sich der Himmel über der Stadt von der Rauchwolke eines brennenden Hauses oder einer Fabrikanlage. Cooper läuft durch die klimatisierte Diele in sein klimatisiertes Arbeitszimmer im ersten Stock; seine Wände sind mit Urkunden übersät, alle absolut gerade und im selben Abstand zueinander aufgehängt. Die Glasscheiben, die sie bedecken, schützen sie vor Staub, jede Urkunde ein kleines Fenster zu den beruflichen Erfolgen seiner Vergangenheit. Er legt das Paket auf den Schreibtisch. Er kann nur vermuten, was die anderen Leute aus seinem Fachbereich dazu sagen würden.
    Er fährt mit dem Messer über das Klebeband. Er wüsste gerne, wo der andere Daumen hingeschickt wurde, und ob der Empfänger seinen Karton wie ein Weihnachtsgeschenk aufgerissen hat. Die Laschen der Schachtel klappen am Falz nach oben. Die Styroporchips knistern unter seinen Händen, während er darin herumwühlt. Er fährt mit den Fingern über die ungleichmäßige Oberfläche der Noppenfolie.
    Da ist er.
    Der Daumen sieht taufrisch aus. Doch der Eindruck täuscht. Schon seit über einem Jahr hängt er nicht mehr an seinem Besitzer. In einer perfekten Welt würde Cooper jetzt alle zehn Finger betrachten, aber der Daumen war alles, was er sich leisten konnte. Andere, größere Körperteile sind an Leute mit höheren Geboten gegangen. Er leckt sich über die Lippen, sein Mund ist so trocken, dass er nicht mehr schlucken kann. Er lässt die Noppenfolie fallen und tritt an das erste seiner zwei Bücherregale. Er stellt das Glas auf das oberste Brett, dorthin, wo er Platz gemacht hat, als er bei der Auktion den Zuschlag bekam. In der Welt der Sammler, einer Welt der Süchtigen, die alles sammeln, was mit Serienmördern zu tun hat, ihre Waffen, ihre Kleidung, das Blatt Papier, auf das sie ihr Geständnis gekritzelt haben, oder die Handschellen, die sie bei ihrer Verhaftung trugen, in dieser Welt ist das hier dasselbe wie das Sammeln von Briefmarken oder Actionfiguren. Achtzig Prozent seiner Sammlung bestehen aus Büchern. Der Rest sind Messer und Kleidungsstücke; außerdem besitzt er einige vertrauliche Polizeiberichte, die er eigentlich nicht haben dürfte. Sein bislang ungewöhnlichstes Stück ist der Bezug eines Kissens, mit dem ein Page in einem australischen Hotel drei Frauen erstickt hat. Cooper dreht das Glas und betrachtet den Daumen. Es ist ein unheimlicher Anblick, allerdings nicht weniger unheimlich als die Tatsache, dass er ihn gekauft hat. Er hat bei einer privaten Internet-Auktion den Zuschlag dafür erhalten. Aufgrund seiner Kontakte von früheren Auktionen hat man ihn eingeladen mitzubieten. Er weiß immer noch nicht so genau, warum er ihn überhaupt haben wollte. Zunächst wollte er ihn nämlich gar nicht. Er fand es eine absurde Vorstellung, ein fremdes Körperteil zu besitzen, doch je länger er sich die Sache durch den Kopf gehen ließ, desto größer wurde sein Verlangen. Er muss verrückt gewesen sein. Was hat er sich nur dabei gedacht? Dass er den abgetrennten Daumen zur Schau stellen und auf der nächsten Dinnerparty seinen Gästen präsentieren könnte? Die Regalbretter in seinem Arbeitszimmer sind voller Sammlerstücke, die er im Lauf der Jahre ersteigert hat, von Mördern wie von Opfern. Sollen sich andere darüber streiten, ob das Sammeln solcher Gegenstände einen Markt für den Tod schafft. Sein Interesse ist rein didaktischer Natur. Wenn er sich mit der Vorgehensweise und der Motivation von Killern auskennen, wenn er anderen etwas darüber beibringen soll, dann muss er sich mit diesen Objekten umgeben. Das ist kein Hobby. Und der Daumen ist mehr so was wie ein … er weiß nicht. Luxus ist das falsche Wort. Kuriosität trifft es besser. Nein, es ist viel banaler – er wollte ihn schlicht und einfach haben.
    Weil er auf die Lieferung des Pakets gewartet hat, ist er spät dran. Wenn er sich nicht beeilt, hocken seine Kriminalpsychologiestudenten gleich ohne Dozent vor der leeren Tafel. Der Daumen hat seinen Zeitplan durcheinandergewirbelt, nun muss er das Frühstück auslassen und sich direkt in den Straßenverkehr stürzen. Er schluckt ein paar Vitaminpillen, hastet zur Garage und parkt rückwärts aus.
    Die Sonne klettert unaufhaltsam den Himmel hinauf; die Schatten der Bäume werden immer kürzer, und einzelne in der Luft schwebende Spinnenfäden glitzern in dem gleißenden Licht. Er schaltet das Autoradio ein und lauscht
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