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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1
Autoren: franklin
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verlieren.«
    Das war die Stimme, die durch eine Kathedrale gehallt hatte, auf deren Stufen das Blut eines Erzbischofs klebte. Nun hallte sie durch ein Refektorium in der Provinz, in dessen Steinritzen das Blut eines Ferkels sickerte.
    »Sie hat ihre Seele längst verloren. Soll England noch mehr Kinder verlieren?« Das war die andere Stimme, diejenige, diemit weltlicher Vernunft gegen Becket argumentiert hatte. Sie war noch immer vernünftig.
    Und dann auf einmal nicht mehr. Henry fasste einen der Soldaten bei den Schultern und schüttelte ihn. Er schüttelte den Rabbi und dann Hugh. »Begreift Ihr jetzt?
Begreift Ihr jetzt? Das
war der Streit zwischen Becket und mir. Eure Kirchengerichte mögen urteilen, habe ich gesagt, aber überlasst mir die Bestrafung der Schuldigen.« Männer wurden wie Ratten durch den Raum geschleudert. »Ich habe verloren. Ich habe verloren, versteht Ihr? Mörder und Vergewaltiger laufen in meinem Land frei herum, weil ich verloren habe.«
    Hubert Walter versuchte, ihn an einem Arm festzuhalten, wurde aber mitgeschleift, während er ihn anflehte: »Mylord, Mylord … denkt dran, ich bitte Euch, denkt dran.«
    Henry schüttelte ihn ab und starrte auf ihn hinunter. »Ich werde es nicht dulden, Hubert.« Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, um den Speichel abzuwischen. »Habt Ihr gehört, Mylords? Ich werde es nicht dulden.«
    Er war jetzt ruhiger, wandte sich den bebenden Richtern zu. »Sitzt über diese Kreatur zu Gericht, verdammt sie, raubt ihr die Seele, aber ich werde nicht dulden, dass ihr Atem mein Reich besudelt. Schickt sie nach Thüringen zurück, ans Ende der Welt, egal wohin, aber ich werde nicht noch mehr Kinder verlieren und, bei meinem Seelenheil, falls sie in zwei Tagen noch immer die Luft der Plantagenets atmet, werde ich der Welt verkünden, dass die Kirche sie hat laufen lassen. Und Ihr, Madam …«
    Jetzt war Priorin Joan an der Reihe. Der König zog ihren Kopf vom Tisch hoch, so dass ihr Nonnenschleier verrutschte und darunter strohiges, graues Haar zum Vorschein kam. »Und Ihr … Wenn Ihr Eure Schwesternschaft auch nur halb so gut abgerichtet hättet wie Eure Hunde … Sie verschwindet, habtIhr mich verstanden? Sie
verschwindet,
oder ich reiße Euer Kloster Stein für Stein nieder, mit Euch mittendrin. Und jetzt verlasst diesen Ort und nehmt das stinkende Ungeziefer da mit.«

    Es war ein jäher Aufbruch. Prior Geoffrey stand in der Tür und wirkte alt und gebrechlich. Der Regen hatte aufgehört, doch in der kühlen, feuchten Morgenluft stieg Bodennebel auf, und die kapuzentragenden, in Umhänge gehüllten Gestalten, die sich auf ihre Pferde schwangen oder in Sänften stiegen, waren kaum voneinander zu unterscheiden. Aber alles war still, bis auf das Klappern der Hufe auf den Pflastersteinen, dem Schnauben aus Pferdenüstern, dem Gesang einer Drossel und dem Krähen eines Hahnes aus dem Hühnerstall. Niemand sprach. Schlafwandler allesamt. Seelen in einer Zwischenwelt.
    Einzig der Aufbruch des Königs war geräuschvoll gewesen, ein Sturm von Saurüden und Reitern, die zum Tor und hinaus ins offene Land galoppierten.
    Adelia meinte, zwei verschleierte Gestalten zu sehen, die von Soldaten weggeführt wurden. Die huttragende, gebeugte Figur, die sich einsam Richtung Burg schleppte, war möglicherweise der Rabbi. Bei ihr war nur Mansur, Gott segne ihn.
    Sie ging zu Walburga, an die niemand mehr gedacht hatte, und legte den Arm um sie. Dann warteten sie auf Rowley Picot. Und warteten.
    Entweder er kam nicht oder er war schon fort. Aha …
    »Anscheinend müssen wir zu Fuß gehen«, sagte Adelia. »Seid Ihr dazu imstande?« Sie machte sich Sorgen um Walburga. Nachdem die junge Frau in der Küche gesehen hatte, was sie nie hätte sehen sollen, war ihr Puls beängstigend hoch gewesen. Die Nonne nickte.
    Gemeinsam trotteten sie durch den Nebel, Mansur an ihrerSeite. Zweimal drehte Adelia sich nach Aufpasser um. Zweimal kam die Erinnerung zurück. Als sie sich zum dritten Mal umwandte … »O nein, großer Gott,
nein.«
    Hinter ihnen ging Rakshasa, die Füße im Nebel unsichtbar … Mansur zog seinen Dolch, steckte ihn aber dann wieder zurück. »Es ist der andere. Bleibt hier.«
    Adelia war noch immer atemlos vor Schreck, während sie zusah, wie Mansur zu Sir Gervase ging, dessen Gestalt so sehr der eines Toten ähnelte, dass er jetzt irgendwie kleiner und seltsam verschüchtert wirkte. Er und der Araber schlenderten ein Stück weiter und waren bald nicht mehr zu sehen. Nur
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