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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia
Autoren: Barbara Krohn
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Hörsturz, aber er hatte keinen Hörsturz, mit ganz anderen Stürzen hatte er es zu tun, mit einem gestürzten Vater und einem gestürzten Freund. Nur einer konnte Recht haben, nur einer von beiden, der beste Freund oder der Vater. Zwei Tage lang hatte er, eingeklemmt in diesem Zwiespalt, ausgeharrt und sich entzweit gefühlt mit der Welt und mit sich selbst und hatte stumm getobt und geheult – und am dritten Tag hatte er es nicht mehr ausgehalten und war zum Vater gegangen und hatte ihm erzählt vom Angeln am frühen Morgen und von der Stille und den Recherchen, an denen Antonio saß, mit denen er als Journalist groß herauskommen wollte, und wie er ihn, den eisernen Verteidiger von Recht und Gerechtigkeit, diffamiert hatte, eine einzige große Lüge – Nicht wahr, das ist alles nicht wahr, das hat er sich ausgedacht, um sich wichtig zu machen, Antonio ist übergeschnappt, sag, dass das nicht wahr ist –, und sein Vater hatte nur wissend gelacht, so wie er immer lachte, und mit diesem wissenden Lachen alle Zweifel vom Tisch gefegt, auch wenn er nicht wirklich eine Antwort gegeben hatte, aber an dem wissenden Lachen konnte man sich besser festhalten als an einem fürchterlichen Verdacht, und Franco hatte sich gut gefühlt nach dem Gespräch, endlich wieder richtig gut, und hatte gedacht, also, wenn wir nächstes Mal angeln gehen, werde ich’s dir zeigen, so blöde Gerüchte in die Welt zu setzen. Eine Woche später standen sie wieder am Kai, genau an dieser Stelle, bei der Pinie, und er wollte gerade loslegen und Antonio gründlich die Meinung sagen, als der Schuss fiel –
    »Er hat mich erst ungläubig angesehen, dann wissend. Da bin ich abgehauen, aber sein Blick hat mich verfolgt, seither mein Leben lang verfolgt, denn er war tot, und ich war schuld daran, ich allein war schuld.«
    Schweigen. Die Schallplatte war zu Ende. Franco Fusco löste den Blick vom Meer und richtete ihn auf Luzie. Seine Augen waren erloschen, sein Lebenswillen erstickt an einer bodenlosen Schuld, die ihm seit damals die Luft abschnürte und die er im Laufe von zwanzig Jahren nie losgeworden war.
    »Es ist nicht zu ändern«, sagte sie leise. »Es ist so, wie es ist.«
    »Es war so, wie es war«, korrigierte er und schien plötzlich wieder geistesgegenwärtig zu sein, im Kopf ganz klar. »Ich habe den Freund an den Vater verraten und alles verloren. Zwanzig Jahre lang habe ich mit dieser Schuld gelebt. Mit dem Wissen, dass Antonio Recht hatte. Dass mein Vater kein Held der Gerechtigkeit war. Dass mein Vater in Wirklichkeit auf der Seite des Bösen stand und über Leichen ging – sogar über die Leiche meines besten Freundes. Dass er Geld dafür kassierte, dreckiges, widerwärtiges, stinkendes Geld, mit dem er mich zu bestechen versuchte, mich zu kaufen versuchte, die Liebe und Achtung seines Sohnes, die er an diesem Unglückstag unwiderruflich verloren hatte.«
    Er schloss kurz die Augen. Mit müder Stimme fuhr er fort: »Ich lebe seither wie ein Scheintoter. Ich habe nie mehr in meinem Leben etwas auf die Beine gestellt. Ich bin von Wohnung zu Wohnung geflüchtet und war trotzdem nirgendwo mehr zu Hause. Nie mehr, nirgends. Ich habe mich nicht mehr verlieben können und keine Familie gegründet. Ich habe keinen Beruf ausgeübt, nicht einmal unbeschwert in den Tag hineinleben konnte ich, wie auch. Und dann kamst auf einmal nach zwanzig Jahren du daher und hast nach deinem Vater gefragt, den du nie kennen gelernt hast und hast mich angesehen mit Antonios Augen, mit den Augen deines Vaters …« In seinem Blick lag jetzt die Bitte um Verzeihung. »Ich … ich konnte ihn dir nicht zurückholen. Ich konnte ihn nur für dich auf eine große Reise schicken … Scusami.« Er griff in die Tasche seines Jacketts.
    »Ich wollte dir eigentlich etwas geben«, sagte Luzie. »Das habe ich doch schon am Telefon gesagt.«
    Er hielt in seiner Bewegung inne.
    »Für deinen Vater.«
    Er runzelte verständnislos die Stirn.
    »Antonios Manuskript«, sagte Luzie, ließ den Rucksack über die Schulter gleiten und zog den Reißverschluss auf. »Antonio hatte es damals an meine Mutter nach Hamburg geschickt, ich habe es erst vor kurzem wiedergefunden.« Sie griff in den Rucksack, zog den Umschlag heraus und hielt ihn Franco Fusco hin. »Das sind die Unterlagen, an denen Antonio damals arbeitete. Die Enthüllungen, mit denen Libero vermutlich versucht hat, deinen Vater zu erpressen … Hier, ich möchte sie euch zurückgeben. Gib sie deinem Vater. Damit sie
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