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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia
Autoren: Barbara Krohn
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jetzt war sie noch Tochter, Sonjas Tochter, aber sie war auch Luzia Zorn, die ihren Weg ging. Die ihren Weg auch dann gehen würde, wenn ihre Mutter einen anderen vorschlug oder sich mit Tränen und Besserwissereien quer stellte. Sonja wiederum war nach wie vor Luzies Mutter, aber sie wusste, sie würde nicht mehr versuchen, hinter ihrer Tochter herzulaufen und sie zu überholen und sich ihr in den Weg zu stellen, um sie aufzuhalten. Sie würde, manchmal schweren, manchmal leichteren Herzens, ihr eigenes Leben leben und wachen und zum Abschied winken und ebenso da sein, wenn Luzie wiederkam.
    »Und das Manuskript?«, fragte Sonja.
    »Ich nehme es mit und gebe es ihm«, sagte Luzie. »Dann ist es wieder in der Familie. Dann kann er es seinem Vater geben. Soll der doch damit machen, was er will. Gute Idee, oder? Mein Vater wird so oder so nicht wieder lebendig.«

36
    Es war ein strahlender Sonntagvormittag Ende Mai. Der Gottesdienst war längst vorbei, zahlreiche Touristen und Neapolitaner waren unterwegs zur alten Festung und zum Borgo Marinaro. Vielköpfige Gruppen und Familien flanierten auf dem Gehweg des Lungomare, Kinder in sommerlicher Sonntagskleidung spielten Fangen, balancierten auf der Ufermauer oder kletterten über die Felsbrocken am Strand, und die ambulanten Kioske machten ein gutes Geschäft mit Getränken, Eis, Taralli und anderen Leckereien.
    Es war Viertel nach elf. Luzie wartete in der Mitte der dammähnlichen Brücke, die vom Festland zum Hafen von Santa Lucia auf der ehemaligen Lieblingsinsel Lukulls führte.
    Lässig schlenderte Franco Fusco auf sie zu, die Hände in den Hosentaschen, auf die Minute pünktlich, allerdings aus der Richtung des Castel dell’Ovo kommend. Sie registrierte Fuscos leichtes dunkelblaues Leinensakko, darunter ein weißes T-Shirt, Edeljeans, saloppe Slipper aus weichem Leder. Er sah aus wie einer der Bootsbesitzer aus dem Yachthafen von Mergellina oder an der Alster, ein Lächeln auf den Lippen, das sich im Besitz der ganzen Welt wähnte.
    Man könnte ihn glatt mit einem Gentleman verwechseln, dachte Luzie.
    Aber die Augen, als er die Sonnenbrille abnahm – die Augen waren glasig, der Blick starr. Die Augen lächelten nicht. Es lag etwas Unheimliches darin, etwas Unentschiedenes, Zwiefaches. Es konnten die Augen eines Mörders sein. Oder die eines Verrückten. Auf jeden Fall nicht die eines Freundes. Luzie fröstelte trotz der Wärme, die in der Luft zerfloss.
    Franco Fusco neigte zur Begrüßung leicht den Kopf. »Buon giorno, Lucia.«
    »Buon giorno, Franco.«
    »Come stai?«
    »Bene, e tu?«
    »Gehen wir ein Stück?« Er zeigte auf die Insel und die bunten Fischerboote und machte Anstalten, sich bei ihr einzuhaken, aber sie trat rasch einen Meter zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust.
    Auf einmal schlug ihr das Herz bis zum Hals. Die ganze Zeit vorher, Samstagnachmittag, in der Nacht, auch am frühen Morgen, war sie sich ihrer Sache so sicher gewesen. »Ich bin eben ein Prüfungstyp«, hatte sie noch beim Frühstück vor sich selbst aufgetrumpft – doch jetzt zerbröckelte ihre aufgesetzte Fassung mit einem Schlag. Sie hoffte nur, dass Franco ihr die Aufregung nicht ansah. Dass er ihr Herz nicht rasen hörte.
    Wie gut, dass sie sich wenigstens über Mikro mit Gentilini und Sonja verbunden wusste, die sich ganz in der Nähe postiert hatten und sie im Auge behielten. Gentilini und Striano waren am Anfang skeptisch gewesen, dann hatten sie sich nach und nach für Luzies Plan erwärmt. Allerdings hatten sie darauf bestanden, zu ihrem Schutz ein Dutzend Polizisten in Zivil auf der Brücke, am Hafen und auf dem Borgo Marinaro zu postieren, getarnt als Angler, Sonntagsspaziergänger, Segler, Familienväter ohne Kinder. Sie hatte gelacht – jetzt war sie plötzlich froh darüber.
    Sie hatte keine Angst, dass Franco sich von einem Moment auf den anderen auf sie stürzen würde. Nicht in aller Öffentlichkeit. Und warum auch? Sie hatte am Telefon gesagt, sie wolle seiner Familie etwas zurückgeben, was ihnen allen sehr viel wert sei. Keine Bedingungen, aber Franco müsse allein kommen. Unbedingt. Sonst würde nichts daraus. Das größte Risiko bestand darin, dass Franco womöglich trotzdem seinen Vater über das bevorstehende Treffen mit Luzie informiert hatte.
    »Schöner Tag heute. Du warst verreist?«, sagte Franco. Es klang weniger nach einer Frage als nach einer Feststellung.
    »Auf Stromboli«, erwiderte Luzie. Sie versuchte einen lockeren Ton
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