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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia
Autoren: Barbara Krohn
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augenblicklich zu einem Eisblock. Luzie … Vor ihrem inneren Auge spielten sich im Bruchteil von Sekunden Dramen ab, grauenvolle Bilder stürzten auf sie ein, die allesamt Luzie zum Mittelpunkt hatten, Luzie als Hauptfigur, als Opfer. Die Angst schnürte Sonja die Luft ab.
    Dann registrierte sie wie durch einen Schleier das Lächeln im Gesicht des Kommissars. Wer so lächelt, hat nicht den Tod im Gepäck, sagte ihre innere Stimme, bleib ruhig, es ist nichts passiert. Der Eisberg in ihr begann zu tauen. Sie gewann die Fassung zurück.
    »Ich wüsste nicht, dass wir uns kennen.«
    »Noch nicht«, sagte der Mann. »Aber wir haben einen gemeinsamen Freund.« Er fuhr fort, Lion Lichtenberg (er sagte Licktenberrrge) habe ihn heute früh angerufen und gebeten, Signorina Zorn (was sich aus seinem Mund eher wie Dsorne anhörte) am Flughafen abzuholen. »Und hier bin ich.«
    Sonja war sich sicher, dass Lion nie und nimmer Signorina gesagt hatte.
    »Signora«, verbesserte sie kühl.
    »Mi scusi«, sagte er. »Natürlich. Signora.«
    »Trotzdem danke«, sagte sie. »Nett von Ihnen.«
    »Nichts zu danken.«
    Einen Moment lang starrten sie sich an, der Commissario unerschüttert lächelnd und nonstop das Kaugummi umwälzend, Sonja unerschüttert nichtlächelnd. Im nächsten Moment nahm Gentilini ihr wortlos den großen Rollkoffer aus der Hand und begann ihn mannhaft und zielstrebig in Richtung Ausgang zu schleppen, statt das Gepäck wie ein folgsames Hündchen über den glatt polierten Terrazzoboden zu dirigieren. Bitte sehr, wenn ihm das lieber war.
    Sonja folgte ihm mit sehr gemischten Gefühlen im Abstand von zwei Metern. Kaum setzte sie einen Schritt außer Landes, hatte sie auch schon zwei Männer im Nacken. Der eine fädelte von Hamburg aus Kontakte ein, um die sie ihn nicht gebeten hatte, der andere nahm sie gleich auf den ersten Metern in Gewahrsam. Natürlich konnte man die Sache auch anders sehen: Ihr uralter treuer Freund Lion Lichtenberg, mit dem sie im Sandkasten Burgen gebaut hatte und der später bei der Hamburger Kripo gelandet war, sorgte auch aus der Ferne rührend für sie, indem er Sie mit jemandem bekannt machte, der ihr in dieser Stadt nützlich sein konnte. Dagegen war nichts zu sagen, das war, solange keine Hintergedanken im Spiel waren, lieb und nett, und auch dieser Kaugummi kauende, lachende, Koffer schleppende Commissario wollte vermutlich auf seine Art nur nett und gastfreundlich sein – gentile eben, um seinem Namen alle Ehre zu machen. Dennoch fragte sie sich verärgert, was Lion ihm wohl erzählt haben mochte, über sie, Luzie, den Hintergrund ihrer Reise … Sie brauchte keine Hilfe. Sie kam allein klar.
    Während sich das Polizeiauto im sprichwörtlichen Schneckentempo durch die verstopften Straßen der Peripherie schob, tauschten Sonja und Gentilini die üblichen Höflichkeiten aus. Wie der Flug gewesen war, das Wetter in Hamburg, das Wetter in Neapel, dergleichen mehr.
    Nein, sie war noch nie in Neapel gewesen. Weder auf Ischia noch auf Capri.
    Nein, auch nicht an der amalfitanischen Küste.
    Sorrento? Nein.
    Nicht auf dem Vesuv. Auch nicht in Pompeji, nein. Überall im Norden, ja, am Gardasee, in der Lombardei, im Friaul, natürlich Toskana, Cinque Terre, Elba, Sardinien, mehrmals in Rom und Venedig, sogar auf Sizilien aber Neapel, nein, noch nie.
    Sie fügte ein leider hinzu, das klang höflicher.
    »Warum nicht?« Gentilini sah sie interessiert von der Seite an. »Für Sie als Journalistin muss Neapel doch ein gefundenes Fressen sein.«
    »Es hat sich nicht ergeben.«
    Darum eben, dachte sie. Weil sie sich damals geschworen hatte, niemals einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Und hätte Luzie nicht vor ein paar Wochen angefangen, beharrlich nach ihren Wurzeln zu graben und Fragen zu stellen, die sie früher nie gestellt hatte, und auf Dachböden zu stöbern und alte Koffer zu öffnen, würde Neapel vermutlich weiterhin hinter verstaubten Oleanderbüschen im Straßengraben von Sonjas kurvenreichem Lebensweg verrotten. Von wegen gefundenes Fressen. Aber das ging diesen Commissario nichts an. »Ich finde, es gibt genügend andere Probleme auf der Welt, als sich zu fragen, weshalb man irgendwo noch nicht gewesen ist«, fügte sie hinzu. »Waren Sie etwa schon mal in Hamburg?«
    Gentilini schnalzte verneinend mit der Zunge.
    »Und warum nicht?«
    Er grinste. »Hat sich nicht ergeben. Leider.«
    Sonja fächerte sich unauffällig Luft zu. Die Temperaturen im Inneren des Lancia kletterten
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