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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia
Autoren: Barbara Krohn
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Häuserdächern mit Fernsehantennen, die wie Periskope von U-Booten in den graublauen Himmel äugten. Sie horchte auf das Rauschen des Meeres, das Raunen von Sibyllen, den Gesang von Sirenen, doch was ihr ersatzweise angeboten wurde war das ungeduldige Aufheulen frisierter Vespamotoren und Hupen in allen Varianten und Lautstärken.
    Irgendwo im Hinterkopf vibrierte Lion Lichtenbergs Stimme, die etwas von einer sinnlichen Stadt faselte. Sinnlich? In der Nase beißende Abgasschwaden, in den Gehörgängen Verkehrslärm, vor Augen ein einziges unerfreuliches Chaos, das sich gerade selbst strangulierte – und auf der Zunge eine Reihe unansehnlicher Worte, die dem Ganzen entsprechend Ausdruck verleihen würden. Aber das hatte Lion wohl nicht gemeint.
    »Und – gefällt es Ihnen?«, fragte Commissario Gentilini, der ihren Blick bemerkt hatte.
    Wahrscheinlich erwartete er ein paar begeisterte, zumindest erwartungsvolle Floskeln, aber Sonja konnte nicht anders, auch auf die Gefahr hin, ihren Chauffeur endgültig zu verprellen.
    »Ehrlich gesagt, nein.«
    »Das merkt man.« Er grinste beifällig, und ihr war unklar, ob er ihr insgeheim Recht gab oder sich im Gegenteil über sie lustig machte.
    Sie verschränkte die Arme über der Brust. »Und Ihnen?«
    »Ich lebe hier«, sagte er achselzuckend. Und dann geschah etwas Unerwartetes: Der Commissario fing an zu singen.
    Sul mare luccica / l’astro d’argento / placida è l’onda …
    Im ersten Moment war Sonja peinlich berührt. War das ein Willkommensständchen für die widerspenstige Reisende aus dem Norden? Eine schmalzige Kostprobe aus dem Reich Mandolinen spielender Machos? Doch dann spürte sie, dass nichts davon zutraf. Da war kein Schmalz und keine Spur von Theatralik, Kitsch oder Übertreibung. Das Schmalzige existierte einzig und allein in ihrem Kopf. Neben ihr am Steuer des Polizeiwagens saß ein leibhaftiger Neapolitaner, der nicht grölte oder leierte oder schmetterte oder brummte, sondern einfach sang. Mit weicher, wohlklingender Stimme und vor allem völlig ungeniert, während die Melodie sanft auf und ab schaukelte wie ein Fischerboot auf dem glitzernden Meer.
    … venite all’argile / barchetta mia …
    Der Gesang eroberte ihr Herz zwar nicht im Sturm, aber er riss eine ansehnliche Bresche in die Mauer ihrer Abneigung. Einen Moment lang hatte sie eine Opernbühne vor Augen, darauf eine Hand voll Autoattrappen vor einem blauen Leinwandmeer, und in den ramponierten Gehäusen mit künstlich aufgepinselten Roststellen saßen echte Sänger, die nun aufstanden und ihre Oberkörper durch die offenen Autodächer schoben und im Chor losschmetterten wie in einer Oper von Verdi …
    Der Kommissar wiederholte den Refrain und legte dabei ein paar Dezibel zu: Santa Lucia! Santa Lucia!
    Wie auf ein unausgesprochenes Kommando setzte zeitgleich ein Hupkonzert ein. Vielleicht hatte irgendwer im Stau die Geduld verloren und augenblicklich eine Vielzahl anderer frustrierter Autofahrer angesteckt, die alle nur darauf warteten, sich endlich Luft machen zu können.
    Gentilini hörte genauso abrupt auf zu singen, wie er begonnen hatte, betätigte zwei Schalter auf dem Armaturenbrett – sie waren also doch nicht allesamt kaputt –, woraufhin sich erstens lautlos die Fenster schlossen und zweitens die Polizeisirene auf dem Dach zu heulen begann.
    Nach einigem Zögern öffnete sich im blickdichten Verkehrsgewimmel ein Spalt, gerade so groß, dass der Lancia, ohne Kratzer oder Beulen zu riskieren, hindurchpasste. Mit Einsatzhorn kamen sie deutlich schnellervoran.
    »Neapel ist ein Monstrum an Stadt, und wenn es mir zu dicht auf die Pelle rückt, singe ich, das beruhigt«, sagte er, wie um zu überspielen, dass er die Grenze der belanglosen Nettigkeiten zwischen ihnen ebenso eindeutig überschritten hatte wie Sonja mit ihrer unverhohlenen Abneigung.
    Sie hatte das Gefühl, irgendetwas erwidern zu müssen. Aber was? »Molto bello«? Oder: »Was für ein schönes Lied!« Oder: »Singen Sie in einem Chor?«
    Aber nichts davon kam ihr über die Lippen, alles, was ihr einfiel, klang so unzulänglich und platt, Geplapper ohne Sinn und Verstand. War es reiner Zufall, dass er ausgerechnet dieses Lied gesungen hatte? Santa Lucia … Luzie … Hatte Lion ihm womöglich doch erzählt, weshalb sie hier war?

3
    Gentilini warf einen Blick auf seine Armbanduhr und verkündete kategorisch, es sei höchste Zeit, in der Altstadt etwas zu essen. Sonja lag ein Protest auf der Zunge. Sie wäre zumindest
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