Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
Sie hatte es ihnen jedoch nicht allzu übelgenommen. Man mußte ihnen zugute halten, welch geradezu heroischer Anstrengung es bedurfte, jeden Tag erneut den Kampf gegen das immer mehr um sich greifende Schwänzen, das trotzige Sichverweigern, die sinnlose Zerstörungswut aufzunehmen – einen fast aussichtslosen Kampf, denn die üblicherweise gültigen Umgangsnormen waren diesen Jugendlichen fremd, ja zuwider; von einem Ideal persönlicher Integrität und Wahrhaftigkeit, das ihnen Maßstab hätte sein können, ganz zu schweigen. Nun, zwei Jahre hatte sie durchgehalten, dann hatte sie das Handtuch geworfen. Im nachhinein wünschte sie manchmal, sie wäre länger geblieben. Die Jungen und Mädchen ihrer Klasse hatten es sich nicht nehmen lassen, ihr zum Abschied sechs absolut scheußliche Weingläser zu schenken, und diese Gläser bedeuteten ihr mehr als jedes andere Geschenk, das sie im Laufe ihres Lebens erhalten hatte. Die Übergabe fand am letzten Tag vor den Ferien statt, im Anschluß an die allgemeine Schulfeier. Keiner ihrer Schüler fehlte. Als sie sie alle da vor sich stehen sah, waren ihr auf einmal die Tränen gekommen. Einer der Jungen hatte eine unbeholfene Rede voller Albernheiten gehalten. Eine ganz und gar hinreißende Rede. Daraufhin hatten ein paar der Mädchen ebenfalls zu weinen angefangen, und selbst die zwei größten Rüpel, die ihr die ganze Zeit über das Leben schwergemacht hatten, waren ganz zahm gewesen, hatten ihr die Hand gedrückt und verlegen ein paar Sätze gemurmelt, in denen durchklang, daß sie ihr Fortgehen bedauerten und ihr gegenüber sogar so etwas wie Dankbarkeit empfanden. Es war unbeschreiblich rührend gewesen. Was sie danach gemacht hatte? Ach, so dies und das. Vor zwei Jahren schließlich war sie nach Oxford zurückgekommen und hatte eine Anzeige aufgegeben, daß sie Schüler suche. Es hatten sich so viele gemeldet, daß sie etliche hatte abweisen müssen. Sie hatte sich ein kleines Haus gekauft, und … tja, seitdem lebte sie nun hier.
    Sie hatte bei ihrer Schilderung etwas Wesentliches ausgelassen, dessen war er sich sicher. Er hatte, wenn auch etwas vage, noch im Gedächtnis, wie Mrs Murdoch sie vorgestellt hatte; vor allem aber sah er noch deutlich ihren Ringfinger vor sich, mit dem sie den Innenrand des Weinglases entlanggefahren war. Ob sie nur dieses eine ausgelassen hatte, oder ob es da noch anderes gab? Aber er hatte keine Lust nachzufragen. Er war zufrieden, hier neben ihr zu sitzen – etwas verliebt und reichlich beschwipst.
    Es war bereits nach Mitternacht. Einige der Gäste hatten sich schon verabschiedet. Die meisten der noch Anwesenden waren inzwischen bei ihrer zweiten oder dritten Tasse Kaffee angelangt, aber niemand holte sich Kuchen, als bestehe eine unausgesprochene Übereinkunft, daß man das ungleiche Paar, das dort, umgeben von den Resten des kalten Büffets ein Refugium gefunden zu haben schien, nicht stören dürfe.
    »Jetzt möchte ich aber auch etwas über Sie erfahren«, sagte sie.
    »Bisher haben Sie sich ja sehr zurückgehalten und mich allein reden lassen.«
    »Von mir gibt es nicht viel zu erzählen. Mein Leben ist nicht halb so interessant wie Ihres. Wirklich. Und mir ist auch gar nicht nach Reden. Ich möchte nur einfach weiter hier so neben Ihnen sitzen.«
    Er hatte den ganzen Abend über reichlich getrunken und sprach etwas verzögert und mit schwerer Zunge. Doch sie störte das nicht; im Gegenteil. Sie fühlte sich auf merkwürdige Art hingezogen zu diesem nicht mehr ganz jungen, gefühlsseligen, etwas altmodischen Mann, und sie mochte, wie er ab und zu mit den Fingerspitzen leicht die Innenfläche ihrer Hand streichelte.
    Um zwanzig nach eins schrillte das Telefon.
    Mrs Murdoch kam diskret auf die beiden zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte leise: »Ein Anruf für Sie.« Ihren wachsamen Augen blieb nicht viel verborgen, und ein ganz klein wenig amüsiert, aber durchaus wohlwollend, hatte sie innerlich konstatiert, daß sich zwischen den beiden offenbar etwas entspann. Jammerschade, daß sie nun stören mußte, aber er hatte ja gleich zu Beginn des Abends gesagt, daß er möglicherweise weggerufen werde.
    Er folgte ihr in den Flur und nahm den Telefonhörer auf.
    »Was …?? Sie, Lewis? Warum zum Teufel … Ah, ja. Ich verstehe. Na gut.« Er sah auf die Uhr. »Ja. Ja doch. Ich weiß, daß ich es Ihnen selbst gesagt habe.« Er legte unsanft auf und ging in den Raum zurück.
    Sie saß genauso da, wie er sie verlassen hatte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher