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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
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geflochten.
    Sophokles, König Ödipus
     
    Constable Walters schloß mit leichtem Kopfschütteln hinter Morse die Tür. Welch merkwürdige Dinge der Chief Inspector hatte wissen wollen! Aber es war ja bekannt, daß er etwas sonderbar war. Walters hatte schon viel von Morse gehört, obwohl dieser im Präsidium der Thames Valley Police in Kidlington arbeitete, während er selbst dem Revier Mitte in der St. Aldate’s Street angehörte. Persönlich gesehen hatte er ihn zum erstenmal heute morgen, als er sich Morse’s Referat angehört hatte, das übrigens, gemessen an seinen Erwartungen, eher enttäuschend gewesen war. Morse nämlich ging ein gewisser Ruf voraus. Es hieß, er sei ein unberechenbarer Choleriker mit spinnerten Ideen; doch selbst seine entschiedensten Gegner mußten anerkennen, daß er mehr Fälle gelöst hatte als jeder andere und daß er einen überaus wachen und scharfen Verstand besaß.
    »Chief Inspector Morse war vor ein paar Minuten hier, Sir.«
    Bell, ein schwarzhaariger Hüne von Mann, blickte Walters fragend an. »Und was zum Teufel hat er hier gewollt?« In seiner Stimme schwang Mißtrauen und eine gewisse Erbitterung mit.
    »Eigentlich nichts, Sir. Er hat nur ein paar Fragen gestellt und ist dann wieder gegangen.«
    »Aber er hat hier überhaupt nichts zu suchen!«
    »Er sagte, er sei zufällig in der Nähe gewesen. Im Clarendon Institute. Dort hat ihm jemand gesagt, daß hier etwas passiert sei.«
    Bells mürrisches Gesicht hellte sich etwas auf. Sein Mund verzog sich zu einem leichten Grinsen, er gab jedoch keinen Kommentar.
    »Kennen Sie ihn gut, Sir?«
    »Morse? Na ja, wie man’s nimmt. Wir haben ein-, zweimal zusammen gearbeitet.«
    »Er soll ja etwas komisch sein.«
    »Etwas komisch? Verdammt eigenartig, wenn Sie meine Meinung wissen wollen«, schnaubte Bell.
    »Aber dafür soll er ja ungeheuer was los haben«, sagte Walters.
    »So? Soll er? Na ja, aber das ist auch nicht alles.« Er war weit davon entfernt, Walters’ fast ehrfürchtige Bewunderung für Morses geistige Fähigkeiten zu teilen, doch war er andererseits ein fairer Mann, und so fügte er hinzu: »Ich weiß schon, was Sie meinen. Morse ist wohl tatsächlich der intelligenteste Kopf, den wir haben, aber das heißt nun nicht, daß er immer recht hat. Ganz im Gegenteil. Er sieht allerdings meistens ein bißchen weiter als wir anderen – ich weiß auch nicht, wie er das anstellt.«
    »Dann ist er bestimmt ein erstklassiger Schachspieler.«
    »Morse und Schachspielen?! Nee, also, was das angeht, der kann einen Bauern nicht von einem Läufer unterscheiden. Wenn er freihat, sitzt er meistens im Pub – oder er hört Wagner.«
    »Er ist nicht verheiratet, oder?«
    »Ich nehme an, daß er zu egozentrisch ist und seine Ruhe wohl auch zu sehr liebt, als daß ihn die Ehe reizen könnte. Aber …« Bell hielt inne und sah den Constable scharf an. »Vielleicht verraten Sie mir jetzt endlich mal, warum Sie sich auf einmal so für Morse interessieren. Also los, Walters. Ich warte.«
    Der Constable wiederholte, so gut er konnte, die Fragen, die Morse ihm gestellt hatte, und Bell hörte ihm schweigend zu. Seine Miene verriet keine Überraschung, nicht einmal besonderes Interesse. Die Tatsache, daß Anne Scott die Haustür nicht abgeschlossen hatte, war in der Tat eigenartig – der Meinung war er auch –, und natürlich mußte man herausfinden, wer der anonyme Anrufer war, der sie informiert hatte, und wieso er (oder war es eine Sie?) die Tote in der Küche entdeckt hatte. Aber schließlich standen sie erst am Anfang, und vieles würde sich im Laufe der Ermittlungen von selbst klären. Und wenn nicht, nun, dann würde er sich darüber keine grauen Haare wachsen lassen, da der Tathergang leider auf traurige Weise völlig eindeutig war. Sie mußte eine gewisse manuelle Geschicklichkeit besessen haben, jedenfalls hatte sie aus mehreren Enden Bindfaden einen Strick geknüpft, ihn zu einer Schlinge gelegt und an einem eingedübelten Deckenhaken festgeknotet. Anschließend war sie auf einen Plastikhocker gestiegen, hatte den Kopf in die Schlinge gelegt, den Hocker weggetreten und sich so erhängt. Entgegen der landläufigen Meinung waren Selbstmorde durch Erhängen relativ häufig. Bell hatte, seit er bei der Polizei war, Dutzende von Berichten gelesen, die alle den gleichen Wortlaut gehabt hatten: ›Tod trat ein info l ge von Asphyxie auf Grund von Erhängen. Suizid.‹ Auch Anne Scotts Tod war auf diese Ursache zurückzuführen, davon war er
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