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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
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nicht mehr da.
    »Ist aus diesem Zimmer irgend etwas entfernt worden, Constable?« fragte er abwesend.
    Walters sah ihn erstaunt an. »Dasselbe haben Sie mich eben schon mal gefragt, Sir, und …«
    »Wie? Ach so, ich dachte, daß Sie vielleicht … War nur so eine Idee.«
    »Und Sie wollen Chief Inspector Bell wirklich nicht sprechen, Sir?«
    »Nein. Ich bin ja nur vorbeigekommen, weil ich zufällig hier in der Gegend war und …« Was folgte, war nur mehr ein unverständliches Gemurmel, denn er hatte die Tür geöffnet und stand schon auf der Schwelle, doch irgend etwas schien ihn zurückzuhalten. »Die oberen Zimmer sind noch nicht gründlich durchsucht worden, sagten Sie?«
    »Nein, Sir. Wir haben natürlich mal kurz hochgeschaut.«
    »Brannte dort Licht?«
    »Nein, Sir. Es gibt oben zwei Räume, auf jeder Seite des Flurs einen. Waren beide dunkel.«
    Morse nickte. Er wußte genau, wie die Räume lagen, so als habe er tatsächlich dort oben schon einmal die Nacht verbracht, und nicht nur beinahe … Wenn er damals vor zwei Monaten mit zu ihr nach Hause gegangen wäre … Vielleicht hätten sie beide sich dort oben in ihrem Schlafzimmer geliebt – er und sie, die jetzt unbegreiflicherweise gleich dort hinter der Tür ausgestreckt auf den kalten Fliesen des Küchenfußbodens lag. Tot. Und nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern durch eigene Hand umgebracht. Erhängt. Eine warmherzige, anziehende junge Frau – und sie hatte nicht mehr leben wollen. Warum nur? Warum?
     
    Draußen auf der Straße wurde Morse sich bewußt, daß er unter einem Schock stand, unfähig, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Die Häuser ringsum waren hell erleuchtet, nur Nr. 10 direkt gegenüber lag im Dunkeln. An der Hauswand lehnte ein altmodisches Fahrrad mit niedrigem Sattel und Gesundheitslenker. Es war mit einer Kette an den Regenabfluß angeschlossen. Morse ging langsam die wenigen Schritte bis zur anderen Straßenseite, wandte sich um und blickte hinüber zu ihrem Haus. Im oberen Stock kein noch so schwacher Lichtschein … Alles dunkel, wie der Constable gesagt hatte. Plötzlich krauste Morse die Nase und sog scharf die Luft ein. Fisch? Er hörte, wie unten am Kanal Wasser aufspritzte. Vermutlich eine Stockente. Er drehte sich um, beugte sich zu dem Fahrrad herunter und begann, leise schnüffelnd, daran herumzuriechen. Ja, eindeutig. Der unbekannte Besitzer des Fahrrades mußte vor nicht allzulanger Zeit Fisch mit nach Hause gebracht haben.
    Auf dem Weg zurück mußte er sich an einem Grüppchen Anwohner vorbeidrücken und fühlte, wie ihm ihre Blicke folgten. Als er nach rechts in die Canal Street einbog, bemerkte er auf einmal die Telefonzelle. Ohne selbst recht zu wissen warum, zog er die schwere Tür auf und trat hinein. Der Boden war mit Papierabfällen und Zigarettenstummeln übersät. Er nahm den Hörer ab, lauschte einen Moment auf den Wählton und hängte dann wieder ein. Der Apparat war also intakt. Sein Blick fiel auf das aufgeschlagene Telefonbuch. Mit zunehmendem Alter hatte seine Sehkraft nachgelassen, und das Licht in der Zelle war nicht sehr hell, aber die fettgedruckten Namen rechts und links oben auf den Seiten konnte er dennoch erkennen: Plumeridge – Pollard – Pollard – Popper. Und auf der Mitte der rechten Seite in Großbuchstaben das Wort: POLIZEI. Darunter, für ihn kaum zu entziffern, die verschiedenen Reviere; eins davon, Oxford Mitte, St. Aldate’s Street, Oxford 498 81. Aber war da nicht schon wieder dieser Geruch? Er ging mit seiner Nase dicht an das Telefonbuch und spürte plötzlich, wie er eine Gänsehaut bekam. Er hatte sich nicht getäuscht. An den Se i ten haftete der Geruch von Fisch.
    Morse ließ Jericho hinter sich, überquerte die Walton Street und die Woodstock Road und schritt dann in Richtung Norden die Banbury Road hinauf nach Hause. Dort angekommen, ließ er sich in einen Sessel fallen und blieb fast eine Stunde unbeweglich sitzen. Schließlich stand er auf, suchte sich unter seinen Schallplatten die Barenboim-Aufnahme des Klavierkonzerts Nr. 21 von Mozart, stellte den Plattenspieler an und hoffte, daß ihn das überirdisch schöne Andante seine Bedrückung vergessen lassen würde. In der Vergangenheit war es ihm manchmal gelungen, auf diese Weise die Sorgen des Alltags hinter sich zu lassen.
    Doch die Schatten des heutigen Tages lasteten zu schwer.
     

Kapitel Drei
     
    Dort sehen wir die Frau, erhängt,
    um ihren Hals die Schlinge,
    die sie sich
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