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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho
Autoren: Colin Dexter
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offen, und der Lichtschein kam vom Flur oder von dem Zimmer, das nach hinten hinaus lag. Den Blick noch immer auf das Haus gerichtet, bemerkte er auf einmal den reizvollen Farbkontrast, der sich aus dem reihenweisen Wechsel von längsliegenden dunkelroten Ziegelsteinen, sogenannten Läufern, mit querliegenden blaugrauen Bindern ergab.
    Noch immer kam niemand, um ihm zu öffnen.
    Sollte er einfach wieder gehen? Es war sowieso töricht gewesen herzukommen. Er hätte beim Mittagessen nicht so viel Bier trinken sollen. Der Genuß von Alkohol hatte seit einigen Jahren eine merkwürdige Wirkung auf ihn; längst totgeglaubte Sehnsüchte begannen sich plötzlich wieder zu regen, und er hatte Anwandlungen sexuellen Verlangens, vor denen er sich in nüchternem Zustand verschont wußte. Auf einmal war ihm, als hätte er drinnen ein Geräusch gehört. Sie war also doch da! Er klopfte wieder, sehr laut diesmal, und nach einer weiteren halben Minute, in der sich drinnen nichts rührte, drückte er langsam die Klinke herunter. Die Tür war offen.
    »Hallo? Ist jemand da?« Die Tür führte direkt in einen überraschend großen Raum, der mit Teppichboden ausgelegt und sehr behaglich eingerichtet war. Morse blickte sich um und speicherte, was er sah, rein aus Gewohnheit, in seinem Gedächtnis.
    »Hallo! Anne? Anne?!«
    Links hinten in der Ecke führte eine Treppe nach oben. Unten über dem Geländer lag eine teuer aussehende lammfellgefütterte Lederjacke, auf der dunkle Spuren von Regentropfen zu sehen waren.
    Obwohl er ganz still stand und angestrengt horchte, hörte er nicht den geringsten Laut. Schon merkwürdig, wegzugehen und einfach alles offenzulassen. Er ging hinaus, schloß leise die Tür hinter sich und stand wieder auf der Straße. Das Haus gegenüber trug die Nummer zehn, für Morse Anlaß, sich wieder einmal über die in manchen Straßen praktizierte unsystematische Numerierung zu wundern, als er plötzlich drüben hinter einem der Fenster im oberen Stockwerk eine kaum merkliche Bewegung der Gardine wahrzunehmen glaubte. Oder sah er schon Gespenster? Er zuckte die Achseln. Schon im Weggehen blickte er noch einmal zurück auf das Haus, das er gerade eben verlassen hatte. Und auf einmal wurde ihm bewußt, daß er sie doch gerne wiedergesehen hätte. Aber da hätte er wohl früher kommen müssen …
    Er brauchte einige Sekunden, bis er begriff, was er sah. Der Lichtschein im oberen Zimmer war erloschen, die Fenster waren dunkel. Und Morse verspürte aus unerklärlichen Gründen plötzlich eine Gänsehaut im Nacken.
     

Kapitel Zwei
     
    Gegen das Tor zum Rosengarten hin,
    Das wir nie geöffnet.
    T. S. Eliot, Burnt Norton
    (Vier Quartette)
     
    Wie sie von ihnen sprach, hätte man meinen können, sie hätte die großen Dichter alle persönlich gekannt, und so war es kein Wunder, daß Dame Helens Vortrag vor Oxfords Literarischer Gesellschaft ein großer Erfolg war. Sie hatte lange Jahre am Merton College den Lehrstuhl für Englische Literatur innegehabt, war aber inzwischen emeritiert. Trotz oder vielleicht wegen ihres ungeheuren Wissens trat sie bescheiden auf und schlug den Bogen von Dante zu T. S. Eliot mit einer ruhigen Selbstverständlichkeit, die große Souveränität verriet. Ihre Zuhörer dankten ihr mit geradezu frenetischem Applaus. Morse, der sonst mit Beifallskundgebungen jeder Art eher zurückhaltend war, klatschte genauso heftig wie die anderen und nahm sich fest vor, daß ihn die spröde und hermetische Sprache Eliots nicht länger abhalten solle und er sich gleich heute abend wieder einmal die Vier Qua r tette vornehmen würde. Warum besuchte er nicht öfter Veranstaltungen wie diese? Er hatte sich lange nicht mehr so wach und lebendig gefühlt. Einen intelligenten Vortrag anzuhören war ganz sicher eine sinnvollere Art der Freizeitentspannung, als sich, wie er das in den letzten Jahren nur allzuoft getan hatte, nach Feierabend das Hirn mit Alkohol zu vernebeln. Und leben hieß doch: sich immer wieder auf die Suche zu begeben. Bereit zu sein, sich auf etwas Neues einzulassen, Tore zu öffnen, wie Dame Helen eben in Anspielung auf Eliot gesagt hatte, Tore zu öffnen und hindurchzuspähen, um vielleicht dahinter doch noch den Rosengarten zu entdecken … Wie lauteten gleich die Zeilen, die sie zitiert hatte? Er hatte sie vor langer Zeit einmal auswendig gewußt, aber inzwischen fast vergessen.
     
    In der Erinnerung widerhallen Schritte
    Den Gang entlang, den wir niemals beschritten,
    Gegen das Tor zum
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