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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
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Offensichtliche zu ignorieren.
    Denise sah auf die Uhr. Sie hatte den Lunch verpaßt, und jetzt konnte sie ebensogut warten, bis Max nach Hause kam, so daß sie zusammen zu Abend essen konnten. Aber sie fühlte sich staubig und trocken im Hals. Sie sollte vielleicht eine Pause machen, ins Freie gehen und in einem der Cafés an der Place du Grand Sablon etwas Kaltes trinken.
    Die Türklingel bimmelte. Laurence mußte vergessen haben, die Tür abzuschließen, als sie ging, obwohl Denise sie gebeten hatte, es zu tun. Aber in Zeiten wie diesen konnte man einen möglichen Kunden nicht verscheuchen. Sie zog schnell ihre Baumwollhandschuhe aus und den Lagerkittel, den sie trug, wenn sie arbeitete.
    – Ich komme, rief sie, während sie gleichzeitig anfing, die gußeiserne Wendeltreppe hinaufzusteigen, die in den Laden führte.
    Ein junges Mädchen stand in der Türöffnung. Auf dem Weg die Treppe hinauf sah Denise sie zuerst von unten als ein Paar Beine in schmaler, schwarzer langer Hose und hochhackigen, geschnürten Stiefeln und dann im Ganzen in den Spiegeln, die an der Seitenwand genau dort hingen, wo die Treppe endete. Sie hatte dunkelrote Haare, straff zurückgekämmt, und sie war kräftig geschminkt mit dunklem, fast schwarzem Lippenstift, ungefähr wie die Serviererinnen in De Ultieme Hallucinatie in der Rue Royale, wo Denise und Max am Freitagabend gegessen hatten.
    Denise hatte sie noch nie gesehen. Oder doch? Auge inAuge mit dem Mädchen, glaubte sie plötzlich, in ihrem Gesicht, in den grünen Augen, in den Linien des Kinns und des schwarzgeschminkten Mundes etwas vage Bekanntes zu sehen.
    – Catherine? sagte sie fragend, und das Gesicht des Mädchens hellte sich auf.
    – Ja, ich bin Tatia Poirot, sagte sie und streckte mit einem beinah schüchternen Lächeln die Hand aus.
    Die angeschminkte Ausstrahlung überkultivierter Dekadenz verschwand völlig, wenn sie lächelte. Ein sehr junges Mädchen mit noch kindlich runden Wangen schaute unter der Schminke hervor. Wie alt mochte sie sein? Denise rechnete nach und kam zu dem Ergebnis, daß sie jetzt sechzehn sein mußte.
    Catherine Poirot mit dem Kosenamen Tatia war die Nichte von Denise’ bester Freundin Martine. Denise hatte sie seit mehreren Jahren nicht gesehen, aber sie erinnerte sich an das rothaarige kleine Mädchen, dem sie ein paarmal zusammen mit ihrem Teenagerschwarm Philippe Poirot und seiner Frau begegnet war. Sie hatte Mitgefühl mit dem Kind gehabt, das mit forcierter Munterkeit so offensichtlich versuchte, die Mißstimmung, die das katastrophal schlechte Verhältnis zwischen den Eltern um sich verbreitete, zu verbergen. Denise erinnerte sich immer noch an die ängstlichen Blicke, die die kleine Tatia jedesmal wenn das Gespräch auf etwas kam, das verminter Boden sein konnte, verstohlen den Eltern zugeworfen hatte. Inzwischen lebte sie bei ihrer Mutter und deren neuem Mann, das wußte Denise durch Martine.
    – Lange her, Tatia, sagte sie und lächelte zurück, als sie die Hand des Mädchens nahm, was führt dich her?
    – Na ja, Martine hat mir gesagt, ich sollte zu Ihnengehen, Madame van Espen, sagte Tatia eifrig. Sie meinte, Sie hätten vielleicht alte Kleider, aus Nachlässen und so, meine ich, die ich kaufen könnte, ich mache ganz viel mit getragenen Kleidern und einige ändere ich, für mich selbst, aber auch für andere.
    Sie sah Denise hoffnungsvoll an, die nachdenklich die schwarzgekleidete Gestalt betrachtete. Tatias taillierte Jacke mit Samtaufschlägen saß perfekt, aber der dichtgewebte Wollgabardine sah wirklich aus, als stamme er von älteren Kleidungsstücken. Hatte das Mädchen die Jacke selbst genäht, war sie geschickt. Aber hatte sie Tatia etwas anzubieten? Es kam vor, daß sich Denise und Max um ganze Nachlässe kümmerten, aber Kleider und Textilien versuchten sie immer so schnell wie möglich loszuwerden. Sicher, sie hatte die Koffer, die sie bei Eric Janssens abgeholt hatte. Sie standen jetzt ganz hinten im Keller. Denise hatte sie nicht einmal aufgemacht. Sie zögerte einen Augenblick, aber die Kleider waren ja schon ein paar Wochen hier. Sie hatten mit dem Mord nichts zu tun, und das Mädchen mußte sowieso nicht erfahren, woher sie kamen.
    – Unten im Keller habe ich ein paar Koffer, die dich schon interessieren können, sagte sie zu Tatia, du kannst darin stöbern und mitnehmen, soviel du willst. Komm mit mir, ich zeig sie dir!

    Tatia folgte ihr mit einem festen Griff um das Geländer, um in ihren hochhackigen Stiefeln
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