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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
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Die beiden Mädchen hatten die Köpfe zusammengesteckt und lächelten auf eine Weise, die etwas übertrieben wirkte, als hätten sie für den Fotografen posiert.
    Das blonde Mädchen hatte eine hohe, breite Stirn, ein rundes Kinn und ein deutliches Lachgrübchen an der linken Wange. Ihr klarer, heller Blick hatte etwas sehr Intelligentes, etwas, das Tatia das Gefühl gab, daß sie das unbekannte Mädchen auf dem Foto hätte mögen können.
    Doch das notierte sie nur en passant, bevor ihr Blick auf dem Gesicht des anderen Mädchens innehielt, so schockierend wohlbekannt. Tatia spürte, wie sich an ihrem Nacken die Härchen aufrichteten. Sie betrachtete das spitze Kinn, die etwas zu lange Nase, die feingezeichnete kurze Furche zwischen der Nase und der fülligen Oberlippe, die Augenbrauen, die sich wie Schwalbenflügel über mandelförmigen Augen hoben, all diese Züge, die sie so viele Male mit Mißmut oder Zustimmung studiert hatte, je nachdem, in welcher Stimmung sie war.
    Es war ihr eigenes Gesicht dort auf dem Foto.

KAPITEL 2
    Freitag, 24. Juni 1994
Villette
    Sie konnten nicht anders als kichern, als sie in ihren hochhackigen Sandaletten die Landstraße entlangschwankten. Sie hatten den letzten Bus verpaßt, genau das, was sie ihren Eltern versprochen hatten, nicht zu tun, und sie hatten keine andere Wahl, als zu Fuß zu gehen. Es waren sechs Kilometer nach Hause, eine Strecke, die sie normalerweise in einer Stunde schaffen konnten. Aber auf den ungewohnten hohen Absätzen dauerte jeder Kilometer doppelt so lange wie sonst.
    – Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen, piepste Sabrina. Sie runzelte die Brauen und zog in einer recht gelungenen Nachahmung von Irritation und Enttäuschung die Mundwinkel herunter. Peggy bog sich in einem neuen Kicheranfall, und sie schwankten weiter, den Arm um die Taille der anderen.
    Nadia, die Jüngste, war nicht ganz so amüsiert. Sie dachte ernstlich daran, sich die Schuhe auszuziehen und barfuß zu gehen. Sie war ihre große Schwester und deren Freundin ziemlich leid. Ohne Schuhe könnte sie sie hinter sich lassen und in einer halben Stunde zu Hause sein. Aber dann mußte sie mehrere Kilometer allein die Straße entlanggehen. Das konnte gefährlich sein. Es war etwas anderes, wenn sie zusammen gingen, da konnte ihnen nichts passieren. Sie waren ja zu dritt.
    Aus den Schatten am Straßenrand glitt lautlos eine schwarze Katze vor ihnen heraus. Sie überquerte die Straßemit gespitzten Ohren und nach unten durchgedrücktem Körper, ein nächtlicher Jäger mit scharfen Klauen und dem Geruch warmen Blutes in den Nasenlöchern. Plötzlich blieb sie stehen, kauerte sich zusammen und machte einen Satz. Etwas quiekte herzzerreißend am Straßenrand. Dann wurde es still.
    Sabrina und Peggy lachten auch darüber, Nadia jedoch nicht. Heute mochte sie Katzen nicht. Am Morgen hatte sie ihre Katze Minette mit drei Vogeljungen entdeckt, die sie getötet hatte. Nadia hätte fast angefangen zu weinen, als sie die kleinen, flaumigen Körper sah. Wochenlang hatte die Vogelmutter fleißig ihre Jungen gefüttert, und jetzt, wo sie beinah flügge waren, lagen sie mit gebrochenem Genick still auf dem Boden. Wie grausam und traurig das Leben war!
    Hätten sie nur den Bus nicht verpaßt. Nadia hatte Peggy und Sabrina in den Ohren gelegen, sie sollten sich beeilen, aber die älteren Mädchen waren immer wieder stehengeblieben, um kurz mit Jungen zu flirten, die zu einem Bier einladen wollten, um noch mehr Gratisessen abzustauben oder um einen weiteren Auftritt der mittelalterlich gekleideten Musiker, Akrobaten und Feuerschlucker anzusehen, die während der Johannisnacht die Straßen von Villettes Zentrum füllten. Als sie schließlich an der Bushaltestelle am Quai des Marchands ankamen, waren sie gerade rechtzeitig genug da, um die roten Rücklichter des Busses verschwinden zu sehen.
    Aber die Mittsommernacht war warm und nicht besonders dunkel, so daß sie sich sehen konnten und auch die Landschaft entlang der Straße, obwohl das Nachtdunkel alle Farben aufsaugte, Nadias rosa Kleid grau und Sabrinas rotes Top schwarz machte. Nur Peggys Jeansrock leuchtetekreideweiß im Halbdunkel. Die sinkende Sonne war ein Blutstreifen am Horizont im Westen. Im Osten war die perlweiße Scheibe des Mondes zu ahnen.
    Der Fluß verlief hier in der Nähe der Straße. Sie hörten ihn auf seinem Weg zum Meer gluckern und flüstern und murmeln, spürten seine feuchte Kühle und rochen das Wasser. Am Flußufer flog mit einem
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