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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
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Plätschern und dem Flattern von Flügeln, das in der stillen Nacht deutlich zu unterscheiden war, eine Ente auf.
    Das Geräusch eines Automotors war in der Ferne zu hören, und Nadia empfand einen kleinen Stich von Unruhe. Aber das Auto fuhr an ihnen vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu senken, und die roten Rücklichter verschwanden hinter der ersten Kurve auf der Straße.
    Nadia entschloß sich weiterzugehen, ohne darüber nachzudenken, wie weit es nach Hause war und wie unbequem die Schuhe waren. Statt dessen würde sie an das denken, was sie im Laufe des Tages gesehen hatte. Sie hatte die Johannisprozession in Villette geliebt, solange sie sich erinnern konnte, und obwohl sie jetzt schon vierzehn war, schlug ihr Herz immer noch schneller, wenn sie den Zug langsam über den Pont des Évêques kommen sah, mit seinem Gewimmel von römischen Soldaten und mittelalterlichen Kreuzrittern, orientalischen Tänzerinnen und Nonnen, Priestern und Propheten, Pferden und Kamelen, alles in leuchtendem Gold und Scharlachrot und Violett. Ihr gefielen am besten die biblischen Szenen, und die waren dieses Jahr ungewöhnlich aufwendig gewesen. Fast alle Mädchen in Villette träumten davon, einmal auf der Wagenfläche, wo Salome für König Herodes tanzte, die biblische Prinzessin spielen zu dürfen. Aber dieses Jahr war Salome von einer Tänzerin von der Oper in Brüssel gespielt worden.
    Nadia hatte keine Salometräume. Sie war mager und schmächtig und galt mit ihren strähnigen Haaren und der Brille, die sie trug, seit sie denken konnte, als nicht besonders hübsch, aber das hatte sie nie gekümmert, denn sie hatte Zukunftspläne, bei denen ihr Äußeres keine Rolle spielte. Obwohl es langsam immer schwerer wurde, dem Druck zu widerstehen. Freundinnen, mit denen sie vorher über wichtige Dinge hatte reden können, waren plötzlich unbegreiflich interessiert an kichernden Gesprächen über Jungen und Schönheitstips, und sie hatte das Gefühl, daß sie versuchen mußte, dabei mitzuhalten. Deshalb hatte sie sich an diesem Tag zum ersten Mal von Sabrina, der anerkannten Schönheitsexpertin des Heimatdorfes, schminken und sich die Haare zurechtmachen lassen. Beinah gegen ihren Willen hatte sie einen Schauer der Erwartung empfunden, als sie sah, wie ihre kurzsichtigen dunklen Augen durch Mascara und Lidschatten hervorgehoben wurden und wie nach Himbeeren schmeckender rosa Lipgloss ihrem kindlichen Mund einen feuchten Schimmer verlieh.
    Sie mochte Sabrina nicht. Sabrina war die beste Freundin ihrer Schwester Peggy, aber sie war eitel, egozentrisch und ziemlich bösartig, fand Nadia. Sabrina hatte wochenlang geschmollt, als klar gewesen war, daß sie dieses Jahr nicht die Chance bekommen würde, für die Rolle der Salome vorzutanzen, aber sie durfte wenigstens als eine der begleitenden Tänzerinnen auf den Salome-Wagen, und das hatte sie in bessere Laune versetzt. Der Tag war ein kleiner Triumph gewesen für Sabrina, die sich in dem orientalischen Gewand sehr gut gemacht hatte und nicht nur von der Lokalzeitung Gazette de Villette fotografiert worden war, sondern auch von ein paar ausländischen Fernsehteams und Fotografen von mehreren internationalen Zeitschriftenaufgenommen wurde. Noch glühend von ihrem Erfolg, hatte sie auch nach der Prozession ungewöhnlich viele Blicke auf sich gezogen. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und immer wieder perlend gelacht, mit sonnenverbrannten Soldaten vom Flawinne-Regiment geflirtet, mit sie bewundernden amerikanischen Touristen englisch gesprochen und war schließlich in Villettes bestes und teuerstes Restaurant zu einem Essen zu zweit eingeladen worden. Sie hatte dankend abgelehnt, aber Nadia hatte den Verdacht, daß das nur daran lag, daß Sabrina Angst vor der Reaktion ihrer Eltern hatte, wenn sie es erfahren hätten.
    Obwohl Nadia Sabrina nicht leiden konnte, sah sie sie gern an, besonders ihre langen Haare, die ihr in dicken Wellen den halben Rücken hinunterhingen und in Tönen von Gold, Kupfer und Rostrot schimmerten, wenn die Sonne darauf schien oder wenn Sabrina den Kopf in den Nacken warf. Nadia war die Beste der ganzen Schule im Zeichnen, und sie wollte Malerin werden, eine große Künstlerin. Sie hatte viele Male versucht, Sabrina zu malen, war aber nie zufrieden gewesen, nicht einmal wenn sie den teuren Malkasten benutzte, den sie vor ein paar Wochen zum Geburtstag bekommen hatte. Sabrina selbst war zufrieden und schmeichelhaft beeindruckt gewesen, aber Nadia wußte
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