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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez
Autoren: Sam Hawken
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Sevilla. »Das warst du selbst.«
    Er verließ die Toilette, als er mit Ortíz fertig war, und mischte sich unter die Menschenmenge, die zum Ausgang strömte. Den zweiten Leibwächter sah er erst, als er mit allen anderen den Parkplatz erreichte. Dort standen schon Polizeifahrzeuge mit blinkenden weißen, roten und blauen Lichtern. Direkt neben dem großen Pick-up, der mit laufendem Motor auf Passagiere wartete, die nicht kommen würden, brüllte der Leibwächter in ein Handy.
    Die Polizei versuchte, eine Absperrung zu errichten, aber es waren zu viele Leute in der
palenque
und nicht genügend Polizisten da. Autos und Lastwagen fuhren weg und ließen sich nicht aufhalten. Andere Männer stahlen sich einfach in der Nacht davon; sie würden später wiederkommen, wenn das Chaos vorbei war und die Polizei aufgegeben hatte. Dazu gehörte auch Sevilla, der fast eine Meile bis zu seinem Auto laufen musste.
    Das große Zittern begann erst, als er am Lenkrad saß. In mittlerer Entfernung hörte er Sirenen, sah er über den Dächern von Häusern und Gebäuden das Wetterleuchten von Polizeiautos und Krankenwagen. Trotz der späten Stunde kamen Anwohner aus den Häusern und überboten sich in Spekulationen, doch wenig später zogen auch sie sich wieder zurück. Noch mehr Tote in der Stadt der Toten. Dafür lohnte es sich nicht, einen ruhigen Abend zu Hause zu unterbrechen.
    Erst als das Zittern abklang und Sevillas Atem und Herz wieder normal gingen, steckte er den Schlüssel ins Zündschloss. Er war schon eine halbe Meile gefahren, als er endlich daran dachte, die Scheinwerfer einzuschalten; den Rest der Strecke legte er in einem Tempo zurück, wie es einem zwanzig Jahre älteren Mann angemessen gewesen wäre. Die Pistole am Körper spürte er überdeutlich. Als ihm unterwegs die Polizei begegnete, erstarrte er, doch der Streifenwagen brauste vorüber.
    Er fuhr zu einem rund um die Uhr geöffneten Spirituosenladen unweit des Touristenviertels und kaufte eine neue Flasche Johnny Walker. Er wartete nicht, bis er zu Hause war, sondern trank gleich vor Ort. Die Hälfte hatte er schon gekippt, als er vor seiner Haustür ankam, die andere Hälfte trank er in den Schatten seiner unbeleuchteten Küche. Er ließ sich voll bekleidet aufs Bett fallen und schlief bis weit nach Morgengrauen.

FÜNFZEHN
    Sevilla träumte nicht von Ortíz, doch Ortíz kam ihm als Erstes in den Sinn, als er am Morgen die Augen aufschlug. Er empfand weder Reue noch Traurigkeit wegen dieses Mannes; Sevilla verspürte eine Leere in sich, wo die Erinnerung an Ortíz ruhte, da er nicht die erforderliche Energie für etwas anderes aufbrachte.
    Kopfschmerzen pochten zwischen seinen Augen, sein Mund schmeckte nach Tod. Sevilla frühstückte in der Küche mit der teuren Sonnenbrille, die die Madrigals nicht getäuscht hatte, und spülte eine Handvoll Aspirin mit Orangensaft, Obst, Milch und Toast hinunter. Ihm war klar, dass sich der Kater letztlich nur durch eine Behandlung mit weiterem Whisky vertreiben ließe, doch er beschloss, vorerst trotz der Schmerzen nüchtern zu bleiben.
    Er versuchte, Enrique anzurufen, aber der Anruf ging nicht durch. Er stellte sich vor, wie Enrique irgendwo durch die amerikanische Wüste fuhr, weit entfernt von jeder Stadt oder Ansiedlung, und keine Ahnung hatte, was in den vergangenen vierundzwanzig Stunden geschehen war. Dann stellte er sich vor, was Enrique sagen würde, wenn er es erfuhr. Dagegen ließ sich nun nichts mehr machen.
    Sevilla duschte, ohne die Lampe im Bad einzuschalten, nur mit offener Tür, damit Licht hereinfiel und er die Augen noch etwas schonen konnte, bevor er in den grellen Tag hinaustrat. Als er fertig war, zog er sich an und steckte den Schlagstock, an dessen Gewicht er sich langsam gewöhnte, in die Tasche. Er lud die .45er nach, immer noch haftete der frische, pfefferartige Geruch von Schießpulver an der Waffe.
    Es wurde fast Mittag, bis er das Haus verließ, gewissenhaft zweimal hinter sich abschloss und auf die Straße trat. Samstag war ein schöner Tag in dieser Gegend, Kinder spielten draußen, Familien versammelten sich in ihren kleinen Gärten, aßen, erzählten Geschichten und freuten sich an guter Gesellschaft. Er sah Kinder mit Fahrrädern unten an der Ecke in einer erbitterten Diskussion darüber, wohin die Fahrt gehen sollte. Auf derQuerstraße rauschte der samstägliche Verkehr vorbei. Samstags bildeten die Geschäfte die vornehmlichen Ziele, verwandelten sich die Parkplätze in Flohmärkte.
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