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Die Tote am Watt

Die Tote am Watt

Titel: Die Tote am Watt
Autoren: Gisa Pauly
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wählte Sörens Nummer. »Funken Sie alle Kollegen an. Ich muss wissen, wohin Tove Griess fährt. Sein zerbeulter Lieferwagen fällt vielleicht einer Streife auf. Er fährt nämlich wie der Teufel.«
    Erik startete seinen Wagen und nahm denselben Weg, den er gekommen war. Den Weg, den auch Tove Griess genommen hatte. Er passierte gerade den Ortsausgang von Westerland, als Sören anrief. »Der Kerl muss wirklich fahren wie ein Verrückter. In Wenningstedt ist er nach Braderup abgebogen. Trotz roter Ampel. Hinter ihm ist es zu einem Zusammenstoß gekommen, aber Griess ist einfach weitergefahren.«
    »Ich brauche Verstärkung«, rief Erik in den Hörer. »Kommen Sie mit einem Streifenwagen, Sören, und bringen Sie Engdahl und Mierendorf mit.«
    »Was ist denn los?«
    »Wenn ich das wüsste!«
    Ein paar Sekunden blieb es still in der Leitung, dann sagte Sören: »Mit Björn Mende kann es nichts zu tun haben. Der ist nämlich vor ein paar Minuten gefasst worden …«
    Mit geöffneten Händen stand Andresen da und starrte auf die Vernichtung seiner Ordnung. Sie hatte sich vor seinen Füßen im Dreck aufgelöst.
    Wenige Augenblicke nur, aber für Mamma Carlotta lange genug, um sich umzudrehen und loszulaufen. Egal, wohin. Nur weg! An der Kante des riesigen Kraters entlang, auf unebenem Grund, auf nachgiebigem, bröckelndem. Sie musste zusehen, dass sie möglichst schnell auf den Weg kam, wo es sich besser laufen ließ. Von dort war es nicht mehr weit bis zur Straße, wo sie Hilfe finden konnte.
    Folgte Andresen ihr? Sie glaubte, seinen keuchenden Atem zu hören, aber es konnte auch der Wind sein, der ihr nachkam. Dann wieder hörte sie seine Schritte – und wusste im nächsten Augenblick, dass es ihre eigenen waren, unter denen sich die Erde löste. Die Möwen schrien ihr zu, sie hätte gern zurückgeschrien, aber dafür reichte ihr Atem nicht und ihre Kraft ebenso wenig. Sie rannte und rannte, stolperte und knickte um, streifte die drosselnde Leine ab, die doch nur der um sich schlagende Kragen gewesen war, und rannte weiter.
    »Signora!« Auf der Straße, die zur Kläranlage führte, eine Gestalt. Ein Mann mit einer roten Schirmmütze. »Signora!«
    Was wollte er? Ihre Beine wurden plötzlich schwerer.
Ihr helfen? Oder steckte er mit Andresen unter einer Decke? Ihre Angst irrte herum und verlor ihr Ziel aus dem Auge.
    »Signora!« Noch jemand. Zwanzig Meter weiter! »Signora!«
    In diesem Augenblick brach das Erdreich unter ihr zusammen. Mamma Carlotta war zu nahe an den Rand des Kraters geraten, ihre Angst hatte sie unvorsichtig gemacht, ihre Panik blind für andere Gefahren. Verzweifelt griffen ihre Arme ins Leere, ihr nächster Schritt suchte nach festem Grund, aber er löste nur weiteren Erdboden.
    Sie stürzte. Zunächst ins Leere, dann in die nachgiebige Wand des Kraters, mit der Schulter, mit der Hüfte, kopfüber, mit den Füßen auf einen hervorstehenden Stein. Sie fiel und fiel, bis sie endlich den erlösenden Schlag erhielt, der ihr das Bewusstein nahm.
    Erik fuhr langsam durch das stille Braderup, blickte in jeden Weg, hielt überall an, wo sich ein neuer Ausblick bot. Aber Toves Lieferwagen war nirgendwo zu entdecken. Schließlich bog er in die Einfahrt des Parkplatzes ein, auf dem Ulla Andresen ermordet worden war. Dort stand ein alter Golf, den er noch nie gesehen hatte. Nachdenklich blickte er in das zerzauste Gebüsch, das den Parkplatz einrahmte. Dahinter, das wusste er, öffnete sich die Kiesgrube, neben der Braderuper Heide und dem Wattenmeer ein landschaftliches Kleinod der besonderen Art. Erik erinnerte sich an hitzige Debatten im Sylter Gemeinderat, bis der Bebauungsplan beschlossen worden war, der über die gewerbliche Nutzung der Kiesgrube bestimmte. Sie war daraufhin für das Mischen von Beton und Asphalt und die Aufarbeitung und Zwischenlagerung von Bauschutt vorgesehen worden. Erik hatte damals zusammen mit den Braderuper Bürgern gegen die neue Nutzung der Kiesgrube protestiert, aber vergeblich.
    Er stellte den Wagen ab. Bei einer Suche in Braderup gehörten die Kiesgrube, die Kläranlage und die alte Mülldeponie dazu. Auch dann, wenn er gar nicht genau wusste, wonach er suchte.
    Die frischen Fußspuren fielen ihm zunächst nicht auf. Aber als er die Böschung hochsteigen wollte, von der aus die Kiesgrube zu überblicken war, stellte er fest, dass jemand kurz vor ihm da gewesen sein musste. Jemand, der mit einem großen Schritt auf die Böschung steigen wollte und abgerutscht war. Eine
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