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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe
Autoren: Astrid Fritz
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wurde ernst. «Bevor jetzt gleich Marthe-Marie diesen Lederschlauch öffnet, möchte ich noch etwas verkünden, was mich selbst betrifft. Ich habe die letzten Stunden um eine Entscheidung gerungen, die mir sehr schwer gefallen ist. Doch nun, da Pantaleon wieder bei uns ist, noch dazu mit diesem prächtigen Bären, und da die Truppe mit Meister Ulricus einen vortrefflichen Mann hinzugewonnen hat – da habe ich beschlossen, euch ebenfalls zu verlassen. So schwer mir dieser Schritt auch fällt.»
    Ein ungläubiges Raunen ging durch die Gruppe.
    «Das ist nicht dein Ernst», sagte Marusch.
    «Doch, Marusch.» Um seine Augen standen dunkle Schatten, und er biss sich auf die Lippen. «Ich habe unterwegs englische Komödianten getroffen, genauer gesagt die berühmte Truppe um John Bradstreet, und Bradstreet hat mir ein Angebot gemacht.» Er lächelte fast hilflos. «Nun ja, ihr alle kennt ja meinen Hang zur großen Schauspielkunst.»
    «Shakespeare und Marlowe!», entfuhr es Marthe-Marie.
    Er betrachtete sie ernst, dann nickte er. «Du solltest es mir gönnen. Damit geht zumindest mein zweitgrößter Traum in Erfüllung, Marthe-Marie. Aber jetzt öffne den Schlauch und zeig uns den Goldschatz.»
    Marthe-Marie schüttelte den Kopf. «Lass das den Prinzipal übernehmen.»
    Sie drehte sich um zu Jonas, hob den Arm und winkte ihn heran.
    Jonas hielt vor Überraschung die Luft an. An ihrem schmalen Handgelenk sah er den Elfenbeinreif hell im Feuerschein schimmern. Sie hatte sein Geschenk angenommen! Ein Freudenschauer lief ihm über den Rücken, als er neben sie trat. Er spürte die Wärme des Lagerfeuers im Gesicht. Oder ging diese Wärme von Marthe-Marie aus? Ihre Schultern berührten sich beinahe, so dicht standen sie beieinander. Jetzt wandte sie ihm ihr Gesicht zu. In ihren dunklen Augen lag ein Leuchten, um ihre Lippen ein scheues Lächeln.
    «Hochverehrtes Publikum, » rief der Prinzipal mit schmetternder Stimme. «Ich bitte um Ihre honorable Aufmerksamkeit. Denn wir kommen zur Hauptattraktion dieses Abends: der geheimnisvollen Verwandlung eines gewöhnlichen Wasserschlauchs in einen Haufen Gold! Tretet bitte zurück, denn bei diesem einzigartigen Wunder werden geheimnisvolle Kräfte frei.»
    Er kniete nieder, strich murmelnd über das hellbraune Schweinsleder, in dessen Oberfläche kunstvolle Ornamente eingebrannt waren. Unter den dumpfen Schlägen einer Trommel hob er das hintere Ende des schweren Schlauches an, dann endlich öffnete er den Verschluss – und heraus rieselte feinster Sand, vermischt mit Kieselsteinchen.
    Entgeistert starrten die Gaukler auf den schlaffen, seines Inhalts entleerten Lederschlauch, der dort wie ein Sinnbild für Lug und Trug in dieser Welt auf der Decke lag.
    In die Stille hinein begann Marthe-Marie zu lachen, erst verhalten, dann immer lauter und herzhafter, bis die anderen einfielen in ihr Gelächter. Immer noch lachend stieß sie mit der Fußspitze in den Sandhaufen. «Da liegt Siferlins Fluch und Vermächtnis – nichts als Sand. Es ist vorbei mit ihm!»
    Dann ergriff sie Jonas’ Hand und hielt sie fest, als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
     
    Regungslos, mit schlaffen Gliedern und geschlossenen Augen lag die Frau in den Armen ihres Geliebten, der sie mit bebenden Lippen beschwor, nicht zu sterben. Doch ihrem Mund entrang sich keine Antwort mehr. Da hob er sein Gesicht zum Himmel und stieß ein Wehklagen aus wie ein verwundetes Tier. Aus der Ferne war unterdrücktes Schluchzen zu hören. In diesem Moment blinzelte die Frau, schlang ihre Arme um den Mann und riss ihm mit einem Ruck sein falsches Haar vom Kopf. Das Schluchzen im Publikum ging in brüllendes Gelächter über. Trommelwirbel setzte ein, wurde lauter und schneller, das Liebespaar sprang auf wie der neu zum Leben erweckte Lazarus, und die Zuschauer brachen in tosenden Beifall aus über das glückliche Ende des herzzerreißenden Rührstücks. Der Kahlköpfige winkte und lachte, hielt plötzlich eine Fiedel an die Schulter und entlockte ihr feurige Klänge, während die Frau neben ihm das Tamburin schlug. Dann sprangen die anderen Gaukler und Artisten auf die Bühne, samt den Kindern, zweier Affen und dem zotteligen Bären. Alle tanzten und klatschten, trommelten und pfiffen, drehten sich im Flickflack oder Salto, schlugen das Rad und sprangen auf die Hände. Längst waren die Zuschauer mit ihrem Klatschen in den mitreißenden Rhythmus der Musik eingefallen, die von den Mauern der Häuser zurückschallte und sich wie ein
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