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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe
Autoren: Astrid Fritz
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träumen.
    Sie drehte sich zur Seite und schloss die Augen. Doch dann geschah das, was sie seit Stunden vermieden hatte: Sie dachte an Jonas, sah sein schmales, bartloses Gesicht mit dem jungenhaften Grübchen im Kinn, das hellbraune Haar, das ihm in leichten Wellen fast bis zur Schulter reichte, den warmen Blick seiner Augen. Sah ihn, wie er plötzlich auf der Landstraße vor ihr stand, aufgetaucht aus dem Nichts. Wie hätte sie ihm verständlich machen sollen, dass sie mit jedem anderen eher als mit ihm leben könnte? Ja, warum eigentlich? Es war nicht nur die Scham gewesen überihr Äußeres, die sie bei ihrer unerwarteten Begegnung gepackt hatte wie ein Fieber. Sie hatte auch plötzlich daran denken müssen, wie der Henkerssohn im Steinbruch über sie hergefallen war, sie mit Gewalt zu nehmen versucht hatte. Als Jonas vor ihr stand, war ihr jenes Erlebnis wieder mit grausamer Klarheit ins Bewusstsein getreten, in einem schier unerträglichen Gefühl des Ekels und Abscheus. Plötzlich waren Jonas und diese Bestie Wulfhart unauflöslich miteinander verbunden gewesen. Wenn sie sich noch jemals auf einen Mann einlassen würde, hatte sie in jenem Moment gedacht, dann auf einen, mit dem sie einen neuen Anfang setzen konnte. Lag ihre Abwehr also darin begründet, dass Jonas zu viel von ihr wusste? Dass ihr Leben, ihre Vergangenheit wie ein offenes Buch vor ihm lag?
    Sie erkannte plötzlich, dass sie ihn immer noch liebte. Das allein war der Grund.
    Am nächsten Morgen fand sie auf dem Absatz der Wohnwagentür ein Päckchen mit einem Zettel. Sie öffnete die kleine Schachtel, auf der ihr Name stand, und fand darin einen schmalen Armreif aus Elfenbein, in den winzige Ornamente eingraviert waren und die Buchstaben ihres Namens. Der Reif war wunderschön. Dann faltete sie den Zettel auseinander.
    Liebste Marthe-Marie! Diesen Armreif habe ich bereits in Ulm gekauft, da ich niemals die Hoffnung aufgeben wollte, dich wieder zu sehen. Elfenbein steht für Reinheit – so wie die Reinheit meiner Empfindungen, die nicht von Mitleid, nicht von Schuldgefühlen bestimmt sind, sondern allein von Liebe zu dir.
    Dein Jonas.

39
    Marthe-Marie packte ihre Sachen zusammen. Viel besaß sie nicht mehr, im Grunde gar nichts, was von Wert gewesen wäre. Ein paar Kleinigkeiten nur, Andenken an ihre Jahre bei den Spielleuten, wie die Maske des Rechenmeisters Adam Ries oder das bunt bestickte Schultertuch, das Marusch ihr einmal geschenkt hatte. Es stammte noch aus Maruschs Kinderjahren bei den Zigeunern. Aus früheren Zeiten besaß Marthe-Marie nur noch das Bildnis ihrer Großmutter, das sie all die Jahre gehütet hatte wie einen Schatz.
    Sorgfältig legte sie ihre abgetragenen Wäsche- und Kleidungsstücke auf einen Stapel. Sie würde es Marusch überlassen, was damit geschehen sollte. Von Agnes’ Kleidern war überhaupt nichts mehr zu verwenden, alles voller Flicken und Löcher. Sie beschloss, nur das Spielzeug mitzunehmen: die kleinen Holzfiguren, die die Kinder an den langen Winterabenden geschnitzt und nach und nach an die beiden Jüngsten verschenkt hatten. Und Diegos Steckenpferd, dessen Farbanstrich inzwischen nur noch zu erahnen war.
    Zuoberst legte sie die Schachtel mit dem Armreif, dann schloss sie mit einem Anflug von Wehmut den Deckel und schleppte die halbleere Reisekiste nach draußen. Vor den Wagen und Karren hockten mit missmutigen Gesichtern die Gaukler. Marthe-Marie wusste, dass sie auf Diegos Rückkehr warteten, denn ohne ihn würde es nicht weitergehen. Der Prinzipal hatte zwei Tage zuvor beim Rat der Stadt vorgesprochen und um Spielerlaubnis für Ostern oder den nächsten Frühjahrsmarkt gebeten. Die Antwort war eindeutig gewesen: «Zwei Seiltänzer, ein paar Possenreißer – gut und schön. Aber habt Ihr nicht etwas Besonderes zu bieten? Dressierte Affen, Feuerschlucker, Ohrenseifenbläser? Oder wenigstens tanzende Zwerge oder Schlangenmenschen?»
    «Nun, wir hätten noch drei Kunstreiter. Doch davon abgesehengehören unsere Komödianten zu den besten im Land. Allein unsere Schauspiele versprechen also höchsten Genuss.» Dabei verschwieg er selbstverständlich, dass ausgerechnet der begnadetste seiner Mimen ebenso wie das einzige Pferd irgendwo am Hochrhein oder im Südschwarzwald umherwanderten – wenn die beiden denn noch am Leben waren.
    Die Herren wollten nichts von hoher Schauspielkunst hören, ließen sich aber schließlich erweichen, die Liste des Repertoires erneut zu prüfen und den Prinzipal nach einigen
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