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Die Time Catcher

Die Time Catcher

Titel: Die Time Catcher
Autoren: Richard Ungar
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Gummistiefel. Während ich mich auf der Jungstoilette umziehe, trainiere ich vor dem Spiegel meine Mimik. Abgesehen von der Spannung, die sie mit sich bringen, mag ich an den Diebstählen besonders, dass sie es mir ermöglichen, als Schauspieler in eine Rolle zu schlüpfen. Diebstähle sind in gewisser Weise wie Auftritte. Irgendwas stehlen kann jeder, doch mir gefällt der Gedanke, die ganze Sache durch meine Kreativität auf ein völlig neues Niveau zu heben.
    Besser gesagt haben Abbie und ich unsere Diebstähle gemeinsam auf ein völlig neues Niveau gehoben. Onkel hatte Abbie ein paar Monate nach mir adoptiert. Von Kindheit an haben wir alles gemeinsam getan. Als es an der Zeit war, Teams für die Diebstähle zu bilden, lag es also auf der Hand, dass Abbie und ich ein Paar wurden. Was mir natürlich gut gefällt, denn mit niemandem bin ich so gern zusammen wie mit ihr. Sie ist nicht nur der begabteste Dieb, den ich jemals kennengelernt habe, sie kann eine Situation auch in kürzester Zeit richtig einschätzen, was in unserem Gewerbe den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann. So hat sie mir im Lauf der Jahre schon mehrfach die Haut gerettet. Außerdem sind wir so vertraut miteinander, dass sie mir oftmals auf Fragen antwortet, die ich noch gar nicht richtig gestellt habe.
    Für ein paar Minuten versuche ich, meinem Gesicht abwechselnd einen erstaunten und empörten Ausdruck zu geben, ehe ich eine wütende Miene aufsetze. Letzteres gelingt mir sogar mit geschlossenen Augen. Ich brauche nur an Mario zu denken.
    Als ich den Flur hinunterstapfe, sehe ich, dass die Tür zur Feuertreppe offen steht. Dort verbringen Abbie und ich vor und nach unseren Missionen oft die Zeit miteinander. Der Blick auf die Stadt ist zwar nicht gerade der beste – im Grunde sieht man nur benachbarte Hauswand –, doch wer senkrecht nach oben schaut, kann ein Stück Himmel über New Bejing erkennen.
    Abbie lümmelt auf dem Treppenabsatz, ein Kissen unter dem Kopf, die Knie angezogen. Ihre langen kastanienbraunen Haare haben sich über das Kissen ergossen. Es wundert mich nicht, dass sie sich bereits für unsere Mission umgezogen hat. Sie trägt ein langärmliges blaues Kleid mit einer Borte am Saum und Samtpantoffeln. Eine mit Rüschen besetzte Haube balanciert auf ihrem Knie.
    Abbies Gesicht ist von mir abgewandt, doch sobald ich den Treppenabsatz betrete, hebt sie den linken Arm und winkt mit zwei Fingern in meine Richtung. Mit der anderen Hand klopft sie neben sich auf den Boden.
    »H i, Cale«, sagt sie.
    »W oher weißt du, dass ich das bin?«
    »D ein Knie hat geknackt.«
    »V erräter!«, sage ich zu meinem Knie und lasse mich neben ihr nieder.
    »W ie war’s in Beijing?«
    »I nteressant. Ich hatte nicht allzu viel Zeit, um mich umzusehen, aber dort gibt es einen wundervollen Park mit großen steinernen Löwen und eine Fußgängerbrücke, die über einen kleinen Teich führt. Dort entspannen sich die Leute, machen Tai Chi und so was.«
    Die Vorgänge auf dem Dach lasse ich weg, weil ich mich ein bisschen von all den Dingen mit Mario erholen muss.
    »W ie war der Tower in London?«, frage ich.
    »H eiß und stickig«, antwortet sie. »I ch finde, wir sollten eine Gefahrenzulage bekommen, wenn wir irgendwo hinreisen, wo es noch keine Klimaanlagen gibt.«
    Ich lache und spüre, wie die Spannung, die sich den Tag über aufgebaut hat, allmählich nachlässt.
    »A lso ich wäre dann für Frankreich bereit«, sage ich, indem ich auf unsere nächste Mission anspiele.
    »D as sehe ich«, entgegnet sie und mustert mich von Kopf bis Fuß. »H übsche Stiefel.«
    »D anke.«
    »L ass uns ein Spiel spielen, bevor wir aufbrechen«, sagt sie und schaut in den Himmel.
    Meine Augen folgen ihrem Blick. Aber der Himmel ist zu klar für unseren Lieblingszeitvertreib, bei dem wir die Gesichter amerikanischer Präsidenten in den Wolken erkennen müssen.
    »W ie wär’s mit Schritte des Schicksals? «, schlägt sie vor.
    Eine hervorragende zweite Wahl.
    »O kay. Willst du anfangen?«, frage ich.
    »N ein, du bist dran«, antwortet sie. »L etztes Mal hab ich angefangen.«
    Wir lachen leise, keiner von uns sagt ein Wort. Ich stelle meine Ohren auf die Geräusche ein, die uns umgeben. An Lärm herrscht kein Mangel – hupende Autos, das Dröhnen eines Flugzeugs, der Wind, der durch die Metallstufen der Leiter pfeift. Doch ich konzentriere mich ganz auf die Geräusche, die vom Hintereingang zu uns heraufdringen. Zwar kann ich von hier aus den
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